Beim Fahren von Mehrproduktanlagen spielen menschliche Faktoren eine große Rolle. Häufige Rezeptwechsel erhöhen das Risiko für Bedienfehler. Aber auch die Automatisierung muss flexibel auf die Herstellung verschiedener Produkte ausgerichtet sein. TÜV Süd Process Safety zeigt, wie die Anlagen sicher zu betreiben sind.
Flexibilität und Effektivität rücken bei verfahrenstechnischen Prozessen immer stärker in den Fokus. Mehrproduktanlagen erfüllen diese Anforderungen. Doch wie sicher sind sie zu betreiben? Was ist im Vergleich zu Mono-anlagen besonders zu beachten? Die Herausforderungen für Mensch und Maschine sind enorm: Häufige Rezeptwechsel, stark variierende Prozessparameter und sich ändernde Steuerungsaufgaben müssen zu jeder Zeit sicher beherrscht werden. Der Faktor Mensch und damit auch das Thema „menschliches Versagen“ spielen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Denn trotz des hohen Automatisierungsgrades von Mehrproduktanlagen ist der Einfluss des Bedieners auf Kontroll- und Sicherheitseinrichtungen groß. Aus verfahrenstechnischer Sicht kommt ein weiterer Aspekt hinzu: Es wird auf Anlagen produziert, die nicht immer im Detail auf jede einzelne Produktionsaufgabe exakt so ausgelegt sein können, wie dies bei Monoanlagen der Fall ist.
Einfluss des Faktors Mensch
Analysen von Vorfällen in der Prozessindustrie zeigen, dass menschliche Faktoren eine kausale oder beitragende Rolle in 40 bis 60 % der untersuchten Ereignisse spielen. Dabei ist es mitunter schwierig, den Faktor Mensch als Ursache zu identifizieren. Nur für den Fall einer typischen Fehlbedienung ist der Zusammenhang zwischen menschlichem Verhalten und Vorfällen klar herzustellen. Schwieriger wird es bei organisationsbezogenen Faktoren wie beispielsweise fehlenden oder fehlerhaften Managemententscheidungen. Und manchmal ereignen sich mehrere Dinge gleichzeitig: Die Kombination aus technischen Problemen oder Defekten und menschlichem Fehlverhalten lösen einen Vorfall aus. Bei der Betrachtung des Faktors Mensch im Gesamtgeschehen des Produktionsprozesses gibt es einen weiteren Gesichtspunkt: Hoher Wettbewerbsdruck zwingt zu Personaleinsparungen, sodass dem Bediener der Anlage immer mehr Aufgaben übertragen werden.
Bedienung und Automatisierung
Bei Mehrproduktanlagen ist die zentrale Herausforderung, eine sinnvolle Aufgabenverteilung zwischen dem Bediener und der automatisierten bzw. teilautomatisierten Anlage festzulegen. Zuverlässigkeit und Sicherheit sind die Domäne der Automatisierung. Wenn diese allerdings Fehler aufweist, können sogar neue, vorher nicht betrachtete Risiken entstehen. Findet ein Rezeptwechsel statt, sind die Prozessparameter und der Grad der Automatisierung anzupassen. Der Bediener überwacht die Produktion, die bei höherem Automatisierungsgrad der Anlage auch weitgehend selbständig ablaufen kann. Er muss sich auf die neue Produktionsaufgabe einstellen. Die Umstellung kann viele Bereiche betreffen: neue Kennwerte und konfigurierte Alarme, aber auch Anweisungen für den Umgang mit reaktiven Stoffen. Mit Blick auf die Prozesssicherheit ist beim Bediener das Vertrauen in die Automatisierung ein wichtiger Aspekt: Ist es zu gering, greift er häufig unnötig ein. Im umgekehrten Fall schätzt der Bediener die „wahre“ Zuverlässigkeit der Automatisierung zu hoch ein und vernachlässigt in Folge seine für den sicheren Prozessablauf wichtige Kontrollfunktion.
Alarmmanagement mit Priorisierung
In Produktionsbetrieben sind mehrere hundert Alarme pro Tag keine Seltenheit. Moderne Prozessleitsysteme machen es einfach, isolierte Alarme zu konfigurieren. Im Zweifelsfall wird lieber ein Alarm zu viel, als zu wenig ausgelöst. Aber nicht jeder Alarm muss Konsequenzen für den Bediener haben. Auslöser können in diesen Fällen beispielsweise verschmutzte Sensoren, zu eng gesetzte Prozessparameter oder nicht optimal laufende Regelkreise sein. Elementar ist, die Priorität richtig einzuschätzen und sinnvolle Maßnahmen zu ergreifen. Deshalb ist es notwendig, zu priorisieren und kritische Alarme für das Bedienpersonal auf den ersten Blick leicht erkennbar zu machen.
Bedienfehler vermeiden
Das Anlagen- und Prozessdesign ist so auszurichten, dass menschliche Fehler bei der Umstellung vermieden werden. Ein Rezeptwechsel sollte so eingeplant werden, dass sie dem Bediener nicht zu viel und nicht zu wenig abverlangen. Rein technische Sicherheitslösungen reichen nicht aus, weil der Faktor Mensch beim Fahren einer Mehrproduktanlage eine entscheidende Rolle spielt. TÜV Süd empfiehlt, die Systemeigenschaften in Bezug auf alle sicherheitsrelevanten Faktoren zu identifizieren. Dazu gehören die Bereiche Technik, Organisation und Mensch. Als Basis dienen systematische Sicherheitsbetrachtungen gemäß den Regelwerksanforderungen und Aufgabenanalysen. Ziel sollte es sein, den Bediener in das Gesamtsystem der Anlage einzubeziehen. Die Betreiber von Mehrproduktanlagen sollten die Arbeitsabläufe stetig weiterentwickeln. Geplante Umstellungen und ihre Auswirkungen müssen von Mitarbeitern stets verstanden und dann auch verinnerlicht werden.
Fallbeispiel
United Initiators (vormals: Degussa Initiators) produziert am Standort Pullach bei München organische Peroxide und Persulfate. Im Jahre 2001 wurde die technische Realisierung der Produktion verändert und modernisiert. Ausschlaggebend hierfür waren der hohe Wettbewerbsdruck und eine damals veraltete Prozessleittechnik. Die geforderte Flexibilität für die Produktion mit Batchprozessen in Mehrproduktanlagen sollte mithilfe eines neuen Automatisierungskonzeptes umgesetzt werden. Zwei Produktionsgebäude mit acht Produktionszellen inklusive der verbundenen Messwarten und Arbeitsplätze wurden zusammengelegt. Zudem sollten die Steuerung und Überwachung zentralisiert werden. Im Fokus stand auch die Synchronisierung eines Prozessleitsystems mit einem Sicherheitssystem.
Das Unternehmen entschied sich für ein Scada-System, das dem sicherheitsgerichteten Leitsystem übergeordnet ist. Das implementierte Konzept kommt bis heute erfolgreich zum Einsatz. Ein OPC-Server stellt die Verbindung des Scada-Systems zur Sicherheitssteuerung her. Alle Produktionsprogramme und auch die Rezepte sind zu jeder Zeit in der speicherprogrammierbaren Steuerung (SPS) geladen. Die Auswahl der Programme und Rezepte wurde auf diesem Wege ebenfalls automatisiert.
TÜV Süd unterstützte den Betreiber beim Implementieren eines sogenannten „Handshake-Verfahrens“, das Scada mit dem Sicherheitssystem verbindet und auf Basis des VierAugen-Prinzips arbeitet. Safeethernet stellt die Datenkommunikation der Produktionseinheiten im Bereich der automatisierten Rohstoffzufuhr sicher. Das Konzept ermöglicht, den Automatisierungsgrad der Multipurpose-Anlage erheblich zu steigern und eine flexiblere Produktion zu gewährleisten, ohne dabei die Schnittstelle „Mensch-Prozess“ zu vernachlässigen. Der erreichte Safety Integrity Level 3 (SIL 3) entspricht dem in EN 61508 geforderten Sicherheitsniveau.
www.prozesstechnik-online.deSuchwort: cav1216tüvsüd
Dr. Thomas Gmeinwieser
Expert Process Safety,TÜV Süd
Unsere Webinar-Empfehlung
Die Websession „Wasserstoff in der Chemie – Anlagen, Komponenten, Dienstleistungen“ (hier als Webcast abrufbar) zeigt technische Lösungen auf, die die Herstellung und Handhabung von Wasserstoff in der chemischen Industrie sicher machen und wirtschaftlich gestalten.
Ob effizienter…
Teilen: