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„Sensoren sind die Sinne der Industrie 4.0“

Smarte Technologien auf dem Vormarsch
„Sensoren sind die Sinne der Industrie 4.0“

Industrie 4.0 ist das Thema schlechthin in der deutschen Wirtschaft. Hersteller von Fabrikautomatisierungstechnik bringen intelligente, kommunikationsfähige Produkte auf den Markt und Maschinenbauer vernetzen ihre Lösungen damit. Doch auch die Anlagenbauer entdecken zunehmend die Vorteile smarter Technologien. Mit neuen Modularisierungskonzepten, einer stärkeren Flexibilisierung und digitalisierten Feldgeräten befindet sich die Prozessindustrie ebenfalls längst auf dem Weg zu Industrie 4.0.

Wenn von Industrie 4.0 und intelligenten Technologien die Rede ist, denkt man meist an Fertigungsunternehmen und die Fabrikautomatisierung. Es geht um das Zusammenspiel zwischen der Feld-, der Steuerungs- und der Leitebene. Insbesondere vom Digital Enterprise und der sogenannten smarten Fabrik erwartet sich die Fertigungsindustrie erhebliche Produktivitätszuwächse. Doch auch für die Prozessindustrie gewinnen Cyber Physical Systems, Digitalisierung und eine vernetzte Produktion zunehmend an Bedeutung. Auch die verfahrenstechnischen Branchen sowie die Hersteller von Messtechnik und Prozessautomatisierung stehen vor der Herausforderung, ihre Produktion stärker zu flexibilisieren und Produkte in immer kürzerer Zeit auf den Markt zu bringen. Gefordert sind vor diesem Hintergrund vor allem eine stärkere Flexibilisierung der Produktion sowie Modularisierungskonzepte für Prozessanlagen. Ebenfalls wichtig sind intelligente, digitalisierte Prozesssensoren, denn mit ihnen lassen sich Informationen über Anlagen- und Komponentenzustände erfassen, eine wichtige Voraussetzung etwa für die vorausschauende Instandhaltung.

Digitalisierung birgt große Potenziale
Das bestätigt auch Michael Ziesemer, Chief Operating Officer (COO) der Endress+Hauser- Gruppe: „Die Digitalisierung eröffnet große Potenziale zur Steigerung der Produktivität in allen industriellen Bereichen, dazu gehören selbstverständlich auch die verfahrenstechnischen Industrien. Durch Auswertung von Betriebsdaten können beispielsweise die Instandhaltung und der Betrieb selbst optimiert werden.“ Dass Prozesssensoren hier eine entscheidende Rolle spielen, muss man nicht extra erwähnen. Prozessmesstechnik-Spezialist Jumo aus Fulda hat diesbezüglich mit Digiline bereits ein entsprechendes System entwickelt. „Es besteht aus intelligenten Sensoren, Messumformern und einer Sensordatenmanagement-Software“, verdeutlicht Jens Lang, Entwicklungsleiter bei Jumo. „Mit diesem System lassen sich unterschiedlichste Sensoren in Stern- oder Baumstruktur miteinander verbinden. Lediglich eine einzige digitale Signalleitung geht dann noch zu einer Auswerteeinheit oder Steuerung.“ Zusammen mit der DSM-Software (Digital Sensor Management) ermögliche die Lösung eine lückenlose Dokumentation über den gesamten Lebenszyklus.
Ohne Sensoren, da ist sich Endress + Hauser-COO Ziesemer sicher, geht nichts. „Sie sind die Sinne der Industrie 4.0. Dann müssen die Daten der zahlreichen Sensoren ins Internet gebracht werden. Konnektivität ist hier das Stichwort. Schließlich sind Plattformen in der Cloud erforderlich und Datenanalytik, um aus Big Data auch wirklich Smart Data zu machen“, betont er. Um dies alles herum brauche es gute Konzepte zur Cyber-Sicherheit. Und dann seien auch noch neue Geschäftsmodelle nötig, mit denen Information in Dienstleistung für den Kunden umgesetzt wird. „Die gute Nachricht ist: Das muss man nicht alles selbst machen – Zusammenarbeit ist angesagt“, sagt Ziesemer. Für Dr.-Ing. Eckhard Roos von Festo ist der Schutz vor fremdem Zugriff auf Daten und Anlagen bei der Vernetzung und Digitalisierung von Produktionen ein absolutes Muss. „Denn die Prozessindustrie ist eine sehr konservative Branche“, so der Leiter KAM und Industry Segment Management PA bei den Esslingern. „Weitere Herausforderungen werden sein, den Anwendern den wirtschaftlichen Nutzen transparent zu machen und sie davon zu überzeugen, manche lieb-gewordene Gewohnheit ad acta zu legen.“ Um dies zu erreichen braucht es laut Siegfried Schwering, Business Development Manager bei Schneider Electric Deutschland, unter anderem Standards: „Die vernetzte Produktion ist nichts grundsätzlich Neues in der Prozessindustrie. Dennoch existieren Herausforderungen. Dazu gehört die Definition neuer Standards im Zusammenhang mit Digitalisierung und Industrie 4.0 in der Messtechnik und Prozessautomation.“ Die Standards der Prozessindustrie würden sich aber von denen in der Stückgutfertigung unterscheiden. „Hilfreich dabei ist die von der Plattform Industrie 4.0 gestartete Normungsinitiative Standardization Council Industrie 4.0. Ziel der Initiative ist es, Standards in der digitalen Produktion zu initiieren und diese national sowie international zu koordinieren“, erklärt er.
Neues Anlagendesign ein Muss
Darüber hinaus erfordert die vernetzte Produktion in der Prozessindustrie ein verändertes Anlagendesign. Der Trend geht den Experten zufolge hin zu einer modulbasierten Produktion. Ziel ist es, die sogenannte Time-to-Market der Produkte zu verkürzen. Doch was verbirgt sich hinter der Modularisierung von Prozessanlagen und wie ordnet sich dies in den Kontext der vernetzten Produktion ein? Festo-Manager Roos erklärt: „Einzelne, standardisierte verfahrenstechnische Abschnitte (Module) werden zu einer vollständigen Produktionsanlage zusammengesetzt. Die Automatisierung der Module erfolgt dann in den Modulen selbst.“ Die Module würden sämtliche Informationen zum Beispiel in Bezug auf Visualisierungsanforderungen einem übergeordneten System zur Verfügung stellen. Dies erfolge weitestgehend automatisch, sodass der Engineeringaufwand für die Integration der Module im überlagerten System minimal sei. Die Vorteile liegen für Roos auf der Hand: „Modulare Anlagen ermöglichen eine größere Flexibilität in der Produktion. Anlagen können durch den Austausch von Modulen auf neue Produkte effizient umgestellt werden und die Märkte schnell bedienen.“ Die Automatisierung folge diesem Konzept, in dem die Automatisierungsfunktionen dezentral, also im Modul selbst umgesetzt werden. „Ein schneller Austausch der Module wäre bei konventioneller Automatisierung nicht möglich“, betont er. Für den Schneider-Electric-Experten Schwering lassen sich Modularisierungskonzepte insbesondere bei mittleren und kleinen verfahrenstechnischen Anlagen verwirklichen und bieten verschiedene Vorteile. „Durch definierte verfahrenstechnische Standardmodule wird ein schnellerer und flexiblerer Aufbau der Gesamtanlage erreicht. Ein Kernelement ist die Vernetzung der entsprechenden Module mittels definierter Standards“, verdeutlicht er. Je nach Moduldefinition könnte ein Modul unter Berücksichtigung von Industrie 4.0 durchaus als Cyber Physical System (CPS) ausgelegt beziehungsweise betrachtet werden. Auch Experten der Namur – Interessengemeinschaft Automatisierungstechnik der Prozessindustrie e.V. – sind sich sicher, dass wer schnell am Markt sein möchte, über eine modulare Anlage nachdenken sollte. Ein Beispiel sei der Ansatz F³ Factory des Forschungszentrums Invite in Leverkusen. Das F³-Factory-Projekt (fast, flexible, future) ist ein EU-Projekt aus dem 7. Forschungsrahmenprogramm, das sich mit der Entwicklung und Implementierung von standardisierten und modularisierten Produktionsanlagen in der chemischen Industrie befasst. Ziel ist es, die Vorteile flexibler aber ineffizienter Batch-Produktionsanlagen mit den Kostenvorteilen einer kontinuierlichen Produktionsanlage, in Form von klein- bis mittelskaligen Produktionsanlagen in Containerbauweise, zu verknüpfen. Hierdurch soll die europäische Chemieindustrie in die Lage versetzt werden, ressourceneffizient und umweltfreundlicher zu produzieren. Michael Ziesemer ist in Sachen Modularisierung skeptischer. Zwar bestätigt er: „Modularisierung ist ein wichtiger Trend bei unseren Kunden, aber nicht der einzige.“ Da sich die Wünsche der Kunden ändern würden, brauche es Flexibilität. Die biete ein modulares Konzept der Produktion: „Numbering up“ statt „Scale up“ sei dann das Stichwort. „Doch ich denke nicht, dass Modularisierung ein Konzept ist für den Cracker und die Olefin-Produktion“, schränkt er ein und ergänzt, „wohl aber geht es auch dort um Vernetzung und Digitalisierung. Dies ist der übergeordnete Trend. Modularisierung ist ein Trend für Teilbranchen.“
„Die Automatisierung muss aber immer der Verfahrenstechnik folgen“, betont Ziesemer. „So wichtig sie auch ist: Sie dient der Verfahrenstechnik. In einem modularen Produktionskonzept muss also auch die Automatisierungstechnik dem entsprechen.“ Das beginne mit der Mechanik, Prozessanschlüssen und der Baugröße. Es gehe um neue Konzepte im Explosionsschutz und schließlich um das große Feld der Konnektivität und der Datenhaltung. „Allein die Durchgängigkeit der Engineering-Daten vom Feed bis zur Instandhaltung bietet dabei gewaltiges Potenzial für Kosteneinsparungen“, ist er überzeugt.
Vernetzte Systeme im Trend
Dass der übergeordnete Trend eindeutig in Richtung vernetzte Systeme geht, sehen auch andere Fachleute so. Und das beginnt schon bei der Planung der Anlagen – Stichwort „Integrated Engineering“. Branchen-Primus Siemens hat daher das Motto ausgerufen: Die digitale Anlage – from Integrated Engineering to Integrated Operations: „Ingenuity for life“. Es geht beim Integrated Engineering laut Dr. Jürgen Brandes, CEO der Division Process Industries and Drives, zum einen um verbesserte Produktivität und Flexibilität, also unter anderem um Cloud-fähige Services und Analytik, eine zuverlässige Konnektivität, Steuerungen der nächsten Generation sowie um die Digitalisierung der Feldebene. Zum anderen sei eine Optimierung von Engineering und Lifecycle Management unerlässlich. „Hier reden wir über integrierte Engineering Tools, Simulation und ein gemeinsames Datenmodell“, so Brandes. „Der Einstieg in die Digitalisierung zahlt sich nicht nur bei Neuanlagen aus. Standardisierung, Flexibilität und ein effizientes Anlagen- und Instandhaltungsmanagement sind gerade auch für Bestandsanlagen essenziell, um wettbewerbsfähig und damit zukunftsfähig zu bleiben.“ Die Nürnberger reagieren mit einem entsprechenden Portfolio, dass Anwender Schritt für Schritt zur digitalen Anlage führt. Es bestehe aus integrierten Software-lösungen, schnellen, zuverlässigen Kommunikationsnetzwerken, Datensicherheit, Smart Services zur Auswertung generierter Daten sowie industriespezifischem Prozess-Know-how und moderner Antriebs- und Automatisierungstechnologie. Auch Automatisierungsspezialist Festo arbeitet daran, das Engineering und Lifecycle Management zu optimieren und andererseits die Produktivität sowie die Flexibilität von Anlagen zu verbessern. „Festo arbeitet in dem ZVEI/Namur-Arbeitskreis mit, der durch eine breite Beteiligung der Anwender und der Hersteller in Deutschland sicherstellt, dass ein herstellerübergreifender, offener Industriestandard entsteht, der für die erfolgreiche Umsetzung des Konzeptes unabdingbar ist“, verdeutlicht Roos. Erste Ansätze im Bereich von Wasseraufbereitungsanlagen seien sehr vielversprechend.
Dezentrale Automatisierung gefragt
Neue Automatisierungskonzepte sind also das Gebot der Stunde. Vor dem Hintergrund einer vernetzten Produktion und modularer Prozessdesigns fordern die Unternehmen der Prozessindustrie daher zunehmend, die Automatisierungstechnik solle entsprechende Prozessleitsysteme (PLS) bereitstellen. „Durch die Nutzung dezentraler Automatisierungskonzepte und der standardisierten Kommunikation in diesen Lösungen wird die Bedeutung traditioneller PLS zurückgehen“, glaubt Dr.-Ing. Roos von Festo. Neue Player würden in diesen Markt eintreten und Teile des Markts übernehmen sowohl im Bereich der eigentlichen Modulautomatisierung als auch auf dem Gebiet der Visualisierung und Prozessüberwachung. Und sein Kollege Schwering, Schneider Electric, meint dagegen, dass dem Prozessleitsystem existierender Anlagen eine bedeutende Rolle zukommt. „Bei entsprechender Eignung kann es die Schnittstelle zur Industrie 4.0-Vorgehensweise beziehungsweise -Architektur bilden. Mithilfe sogenannter Verwaltungsschalen wird eine Kompatibilität zu Industrie 4.0 hergestellt. Die definierten Schalen legen sich virtuell um die vorhandenen Anlagenteile und machen sie so zu Industrie-4.0-kompatiblen Einheiten“, erklärt er. In einer entsprechenden Datenbank, die üblicherweise bei Prozessleitsystemen schon vorhanden ist, würden diese Schalen abgelegt und verwaltet. Und Endress+Hauser-COO Ziesemer glaubt, dass klassische Leitsysteme bald der Vergangenheit angehören. „Feldtechnik mit Sensorik und Aktorik sind heute schon intelligent und werden Teil des Internets der Dinge. Die IT mit ERP- und MES-Systemen verbindet sich mit der Feldtechnik. Natürlich muss immer noch in Realzeit gesteuert und geregelt werden, aber das klassische Leitsystem ist in dieser Architektur ein Auslaufmodell.“ Endress + Hauser fühlt sich für diese Entwicklung gut gerüstet. So verzeichnet das Unternehmen im „Common Equipment Record“ gerätespezifische Informationen zu inzwischen mehr als 28 Millionen Feldgeräte. Kunden können diese Daten online nutzen. Groß ist auch das Know-how im Bereich „Business Process Integration“, um Messwerte und Geräteinformationen in ERP-Systeme einzubinden und automatisch weiterzuverarbeiten.
Auf dem Weg zu Industrie 4.0
Bereits heute werden insbesondere in der chemisch-pharmazeutischen Industrie modulare Produktionsanlagen produktiv eingesetzt. So hat das chinesische Pharmaunternehmen Chengdu Rongsheng Pharmaceutical seine Prozesse mit einem Manufacturing-Execu-tion-System von Siemens modernisiert. Die Anlage zur Produktion von Blutplasma in Chengdu arbeitet jetzt mit einer hochmodernen elektronischen Chargendokumentation und ist dadurch stabiler und effizienter. Digitalisierung und vernetzte Produktion sind in Teilen also schon Realität. Fazit: Die Prozessindustrie ist bereits ein gutes Stück auf dem Weg zu Industrie 4.0 vorangekommen.

Johannes Gillar
Freier Journalist, Leinfelden-Echterdingen
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