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Abschied vom hohen Schornstein

Chancen und Grenzen der Small-Scale-Chemie
Abschied vom hohen Schornstein

Zunehmende Digitalisierung, Konkurrenzdruck, Umweltauflagen und unsichere Rahmenbedingungen setzen selbst den Branchenriesen in Chemie und Pharmazie zu. Die Chemie ist „entwickelt“ – die Wachstumsmöglichkeiten der Unternehmen sind beschränkt. Abseits von der Erweiterung des eigenen Produktportfolios durch Firmenübernahmen, verspricht hauptsächlich eine Strategie Erfolg: noch schneller und stringenter passgenaue Lösungen für Kunden und Märkte bereitstellen zu können.

Die Dimensionen, in denen man in der chemischen Industrie denkt, sind von jeher riesig – Beispiele sind die Megaanlagen, in die auch heute noch, vor allem in den boomenden Schwellenländern, investiert wird. Sie werden sicher auch ihre Zukunftsberechtigung behalten – allerdings nur, wenn es um die Produktion von Massenchemikalien oder breit einsetzbaren Zwischenverbindungen für stabile oder wachsende Märkte geht. Wachsenden Kundenerwartungen, immer schneller werdenden Produktzyklen, knapper werdenden Ressourcen und dem steigenden Investitionsrisiko für neue Anlagen kann man jedoch mit Großanlagen nicht begegnen. Hier sind flexible Anlagenkonzepte gefragt, die beispielsweise mehr als ein Produkt liefern oder sich an wechselnde Anforderungen der Fein- und Spezialchemie anpassen lassen. Modularisierung und Digitalisierung sind die Instrumente auf dem Weg zu höherer Flexibilität und Wirtschaftlichkeit.

Gefragt sind flexible Anlagen, mit denen die chemische Produktion schnell auf individuelle Kundenwünsche und Nachfrageschwankungen reagieren kann, mit denen sich zudem die Kosten besser abschätzen und der Flächen- und Ressourcenverbrauch minimieren lassen. Darüber hinaus besteht Interesse an dezentralen und mobilen Produktionslösungen – damit wäre dann die Produktion auch an Standorten oder in Regionen attraktiv, an denen Platz oder geeignete Infrastruktur fehlt oder nur eine zeitlich begrenzte Produktion erforderlich ist. Die technische Voraussetzung, all diese Anforderungen zu erfüllen, liefert die Small-Scale-Chemie, die Kombination von Mikroreaktionstechnik mit einer standardisierten, modularen und kompakten Anlageninfrastruktur. An der praktischen Umsetzung wird derzeit mit Hochdruck gearbeitet.

Kooperation für Kleinanlagen

Evonik und das Fraunhofer ICT-IMM (ehemaliges Institut für Mikrotechnik Mainz) beschäftigen sich schon lange intensiv mit den Fragen der Small-Scale-Chemie. Im Rahmen einer Reihe von gemeinsamen Projekten haben sich Experten des Geschäftsgebiets Verfahrenstechnik & Engineering von Evonik und des Bereichs Energie- und Chemietechnik des Fraunhofer ICT-IMM zusammengefunden, um in Kooperation mit weiteren Partnern die Planung und Realisierung entsprechender Anlagen im Hinblick auf die Nutzung für verschiedene konkrete Produktionsverfahren zu erforschen. Mehrere Entwicklungen werden dabei aufgegriffen und kombiniert.

Als Erstes steht inzwischen ein breites Portfolio an kompakten, leistungssstarken Apparaten wie Mischern, Wärmetauschern, Reaktoren für Flüssig-Flüssig- oder Gas-Flüssig-Reaktionen oder Reaktoren für katalysierte Reaktionen zur Verfügung. Dazu zählen auch mikrostrukturbasierte Apparate, die sich durch eine besonders gute Kontrolle über Prozessbedingungen wie Strömungsmuster, Stoff- und Wärmeaustauschprozesse auszeichnen. Hinzu kommt das Konzept des Ecotrainers von Evonik, eine Produktionsinfrastruktur in Form eines Containers abzubilden, und für Produktionskapazitäten bis zu 500 t/a bereitzustellen. In einem speziell entwickelten Container in der Größe eines 40-Fuß-Überseecontainers sind dabei auf einer Grundfläche von 3 x 12 m ein Kontrollraum, ein Schleusenbereich für den Zutritt, der zentrale Prozessraum für die Prozessimplementierung und ein Logistikraum untergebracht.

Die rasanten Fortschritte in Automatisierung und Digitalisierung verstärken das Konzept von Smale-Scale-Anlagen. Die Ecotrainer fanden in den vergangenen Jahren Eingang bei mehreren EU-Projekten, um ihr Potenzial für die Praxis zu erforschen und weiterzuentwickeln. So verfolgte ein Konsortium von 16 Partnern im Copiride-Projekt den Ansatz modularer Produktions- und Anlagenkonzepte für intensivierte Prozesse für eine flexible, anpassbare Produktion. Der Ecotrainer stellte eine Kerninnovation im Projekt dar. Im Rahmen von Copiride wurde er mit einem Versorgungssystem für Wasser, Prozessgase, Strom, Wärme und elektronische Daten ausgerüstet. Neben der Umsetzung der projektspezifischen Anforderungen war die universelle Einsetzbarkeit der Lösungen ein wichtiges Kriterium.

Auch für APIs geeignet

Auch im EU-Projekt Polycat kam der EcoTrainer zum Einsatz. Ziel der insgesamt 19 am Projekt beteiligten Unternehmen, Hochschulen und Forschungsinstitute, unter der Koordination durch das Fraunhofer ICT-IMM, war die Entwicklung innovativer und nachhaltiger Synthesewege und Produktionskonzepte für die Feinchemie und die pharmazeutische Industrie. Neuartige nanoskalige, polymergeträgerte Katalysatorsysteme, Konti-Prozessführung mit verschiedenen Flowreaktoren und eine modulare Anlage in Kleinbauweise waren dabei die zentralen Projektinhalte. In Polycat wurde das Ecotrainer-Konzept weiterentwickelt, damit es die GMP-Anforderungen für Synthesen pharmazeutischer Wirkstoffe (API) erfüllt. Für die Demonstrierung der Projektergebnisse im Bereich Katalysator- und Reaktorentwicklung wurde als Modellsynthese die Herstellung eines Arzneiwirkstoffs aus dem Portfolio des beteiligten Pharmaunternehmens ausgewählt. Den wesentlichen Schritt in der Synthese bildete dabei die selektive Hydrierung einer Nitrogruppe; dafür gab es zu Projektbeginn weder einen geeigneten Katalysator noch einen Prozess. Aus der breiten Palette an im Projekt untersuchten und weiterentwickelten Katalysatorsystemen fiel die Wahl für diese heterogen katalysierte Gas-Flüssigkeits-Reaktion schließlich auf Palladium, aufgebracht auf einem hochverzweigten und porösen Polystyrolträger (hyperbranched polystyrene, HPS) des Projektpartners Tver Technical University. Der aktive Palladiumkatalysator ist dabei in den Poren des hochverzweigten Polystyrols in Form von Nanopartikeln eingebettet und zeichnet sich durch hohe Selektivität aus. Als Konti-Reaktor kam ein Minifestbettreaktor mit einem vorgeschalteten Mikromischer zur Kontaktierung des Wasserstoffs und der flüssigen Phase mit dem Ausgangsmolekül zum Einsatz.

Wirtschaftlich und vielseitig nutzbar

Neben der Demonstrierung der entwickelten Katalysatoren und Reaktoren, war es dem Partner aus der Pharmaindustrie auch wichtig, dass die Synthese des gewählten Wirkstoffs sich schnell vom Labor- in den Pilotmaßstab überführen lässt – wie dies auch im Projekt gezeigt werden konnte. Dabei spielte auch der Ecotrainer wiederum eine Rolle, da dieser die Plattform für die Integration und den Betrieb der Demoanlage bildete. Der Prozessraum des Ecotrainers wurde im Rahmen des Projektes mit einer Multi-Purpose-Anlage ausgestattet. Diese wiederum enthielt Flow-Reaktoren verschiedener Anbieter und war sowohl für die Erprobung verschiedenster im Projekt entwickelter Katalysatorsysteme als auch für die Untersuchung verschiedener heterogen katalysierter Reaktionen geeignet.

Die im Projekt durchgeführten Kostenrechnungen bestätigten die Wirtschaftlichkeit des Konzepts und des Prozessdesigns und zeigten für die Modellreaktion, dass die Gesamtproduktionskosten allein durch eine kontinuierliche Prozessführung um 23 % niedriger liegen als bei einem vergleichbaren diskontinuierlichen Batch-Verfahren. Weiteres Optimierungspotenzial wurde für die Produktaufarbeitung aufgezeigt.

Hydrierungsreaktionen spielen bei einem Großteil der Herstellverfahren für pharmazeutische Wirkstoffe oder Spezialchemikalien eine wichtige Rolle, häufig verknüpft mit besonders hohen Anforderungen an die zu erreichenden Selektivitäten. Damit sind die Projektergebnisse breit anwendbar. Anzumerken bleibt natürlich trotzdem, dass eine auf Mikrotechnik basierende Small-Scale-Produktion nicht für alle Prozesse anwendbar ist. Immerhin wird aber der Anteil der für diesen Ansatz geeigneten Prozesse auf 10 bis 20 % geschätzt. Zu den guten Kandidaten zählen zum Beispiel hochexotherme Reaktionen, wie die Synthese ionischer Flüssigkeiten, Ozonolysen, Epoxidierungs-, Fluorierungs- oder Sulfonierungsreaktionen.

Die Arbeit geht weiter

Die Potenziale der Verknüpfung von durch Mikroreaktionstechnik verbesserten oder intensivierten Prozesse mit einer flexiblen Chemieanlageninfrastruktur im Containerformat wurden in den Projekten Copiride und Polycat sichtbar. Es bleiben im Bereich der Mikroreaktionstechnik sicherlich noch Aufgaben, zum Beispiel im Hinblick auf die Produktaufarbeitung, sei es über die Entwicklung neuer Apparate oder über die geschickte Verknüpfung mit angepassten Apparaten vorhandener Technologieansätze.

Darüber hinaus ist aber auch noch das volle Potenzial aus der Kombination der beiden Ansätze zu heben. Hier gibt es noch viele weitere Anknüpfungspunkte, sei es die Berücksichtigung der zunehmenden Bedeutung der Automatisierung und Digitalisierung chemischer Prozesse oder die Herausforderungen und Chancen aus Energie- und Rohstoffwende.

www.prozesstechnik-online.de: cav0617fraunhoferictimm


Autor: Dr. Patrick Löb

Stellv. Bereisleiter Energie- und Chemietechnik,

Fraunhofer ICT-IMM

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