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So denkt die Chemiebranche über die Digitalisierung

Digitale Chemie stärkt Nachhaltigkeit
So denkt die Chemiebranche über die Digitalisierung

Die Digitalisierung ist ein beherrschendes Thema in der chemischen Industrie. Die Liste der Unterpunkte ist lang: 5G, Cloud, Künstliche Intelligenz, Blockchain und vieles mehr spukt in den Köpfen der CDOs herum. Doch wo stehen wir aktuell wirklich? Und welche Rolle spielt das Thema Nachhaltigkeit. Wir haben bei verschiedenen Stellen nachgefragt, um uns einen Überblick zu verschaffen.

Nach dem Prozess der Globalisierung und Spezialisierung ist die chemische Industrie in ein neues Zeitalter eingetreten – die Digitalisierung. Sie hat sich endgültig einen Spitzenplatz auf der Agenda der Prozessindustrie erobert. Die Bandbreite der Begriffe rund um die Digitalisierung ist enorm. Sie reicht von digitalen Lösungen für Produktion, Instandhaltung und Anlagenplanung/-bau über Cyber Security, Augmented Reality (AR), Virtual Reality (VR), Künstliche Intelligence (KI), Blockchain bis hin zu Big Data, Machine Learning, Smart Analytics und 5G. Während die Digitalisierung der Geschäftsprozesse bereits weit fortgeschritten ist, hinkt die Digitalisierung der Produktion noch etwas hinterher. Das Letztere nicht ganz so einfach ist, hat die Einführung der Feldbusse gezeigt. Diese Digitaltechnologie hat in 20 Jahren gerade einmal eine Marktdurchdringung von etwas mehr als 10 % erreicht. Gründe für das Scheitern gibt es viele, zudem der lange Kampf zweier Systeme sicherlich sein Scherflein beigetragen hat. Jetzt steht die Branche mit APL, FDI und Profinet vor einem Neustart, die Digitalisierung der Produktion endlich in der Breite bis auf die Feldebene zu bringen. Wenn das ‧allerdings etwas werden soll, dürfen die Fehler der Vergangenheit nicht noch einmal wiederholt werden.

Wir wollten deshalb von verschiedenen Experten wissen, wie sie den aktuellen Stand der Digitalisierung einschätzen, was sie sich von der fortschreitenden Digitalisierung erhoffen, wo sie die größten Chancen für die Prozessindustrie sehen, welche Hürden es noch zu überwinden gilt und welche Impulse sie von der Achema 2022 bezüglich der Digitalisierung erwarten.

Wie schätzen Sie den aktuellen Stand der Digitalisierung in der Prozesstechnik ein?

Christian Bünger, VCI: Heute prägen besonders Digitalisierung, Nachhaltigkeit und zirkuläre Wirtschaft die Branche. Diese Trends verändern derzeit die Gesellschaft und die Industrie fundamental. Die Digitalisierung ist in der Chemie in verschiedenen Bereichen sichtbar. In den hochkomplexen Anlagen der Branche liefern digitale Sensoren Informationen über Druck, Temperatur und andere Prozessparameter. Diese Informationen sind unverzichtbar, um Produktionsverfahren sicher und optimal zu steuern. Mit Aufkommen der „Industrie 4.0“ bekam die Digitalisierung vor einigen Jahren eine neue Dynamik. Seitdem geht es viel stärker um Interaktion, Vernetzung in der Wertschöpfungskette und die intelligente Nutzung von Daten. Neue Forschungsansätze im Labor entstehen dadurch ebenso wie intelligente Anlagensteuerung und digitale, datenbasierte Geschäftsmodelle.

Dr. Gunther Kegel, ZVEI: Die Digitalisierung der Prozessindustrie schreitet, ebenso wie die der Fertigungsindustrie, stetig voran. Als Verband der Elektro- und Digitalindustrie treibt der ZVEI diese Entwicklung, unter anderem im engen Austausch mit den Anwendern der Namur. Positiv ist, dass sich Digitalisierungsteilmodelle der Prozessindustrie wie MTP (Module-Type-Package) und NOA (Namur Open Architecture) sehr gut in das Gesamtbild der Verwaltungsschale einordnen lassen. Die Effekte sind enorm: Durch MTP beispielsweise können Anwender neue Produkte deutlich schneller in den Markt bringen. Im Durchschnitt reduziert sich die Zeit um die Hälfte; und der Engineering-Aufwand lässt sich sogar um 70 % reduzieren, die Flexibilität um 80 % erhöhen.

Michael Przytulla, VDMA: Die Prozessindustrie profitiert von neuen digitalen Geschäftsmodellen. Automatisierte Services bieten die Möglichkeit, sich vom Wettbewerber abzuheben. Doch wie sieht die Umsetzung aus? Mobile Endgeräte erleichtern enorm die Arbeit im Feld. Vergleiche von Anlagen an diversen Standorten werden bei minimalem Aufwand ermöglicht, und Instandhaltungsarbeiten und die Anlagenoptimierung werden durch die Digitalisierung vereinfacht.

Dr. Jens Kroneis, BASF: Die Digitalisierung wird in der Prozessindustrie bereits seit einigen Jahren systematisch vorangetrieben. Die Betreiber haben die wirtschaftlich interessantesten Use Cases und mögliche digitale Lösungen identifiziert. Auf Lieferantenseite sehen wir ein immer größeres Angebot. Derzeit geht es um eine möglichst kosteneffiziente, skalierbare und nachhaltige Implementierung von Lösungen, die darüber hinaus in die bestehende Infrastruktur integriert werden müssen.

Dr. Felix Hanisch, Namur: Die größte Herausforderung der Prozessindustrie in den nächsten 10 Jahren wird die Konversion zur Klimaneutralität sein. In den letzten 30 Jahren hat die Chemieindustrie in Deutschland ihre Treibhausgasemissionen um über 50 % gesenkt – und das bei einer um 76 % gesteigerten Produktion! Dazu hat und kann die Digitalisierung ihren Beitrag leisten.

Was erhoffen Sie sich von der fortschreitenden Digitalisierung?

Christian Bünger: Die Digitalisierung ist für die chemisch-pharmazeutische Industrie eine große Chance, denn damit lassen sich neue Effizienzpotenziale heben. Auch die Vernetzung und die Kommunikation in der industriellen Lieferkette verbessern sich. Allerdings nehmen auch die Sicherheitsforderungen zu, weil die Anlagensysteme zunehmend miteinander und mit Komponenten außerhalb der Branche vernetzt sind.

Gunther Kegel: Sogenannte „gestrandete Vitaldaten“, die üblicherweise nur mit enormem Engineering-Aufwand zu nutzen sind und in 80 % der Anlagen ungenutzt bleiben, werden durch NOA leichter zugänglich. Wartungskosten, aber auch der Energie- und Rohstoffverbrauch, lassen sich somit reduzieren. Hier sehe ich große Chancen für die Prozessindustrie. Deutlich wird auch hier, wie Digitalisierung zu mehr Nachhaltigkeit führt und wie groß der Beitrag der Automation dazu ist. Beide Konzepte müssen jetzt mehr von den Anwendern angefordert werden und natürlich müssen sich die Investitionen für die Hersteller auch auszahlen. Beide Konzepte haben das Potenzial, die Prozessindustrie zukunftsfähig zu machen.

Michael Przytulla: Big Data wird immer wichtiger: Auswertealgorithmen und Assistenzsysteme (KI) unterstützen proaktives, statt reaktives Handeln und die Entscheidungsfindung. Der virtuelle Zwilling muss dazu zwingend Anlagen und Komponenten in der Prozessindustrie durch den gesamten Lebenszyklus begleiten. 3-D-Modelle ermöglichen Simulationen und werden für Schulungen eingesetzt.

Jens Kroneis: Die Digitalisierung ist für BASF ein entscheidender Wettbewerbsfaktor. Sie hilft, neue Lösungen und Anwendungen für Kunden zu schaffen, das Geschäftswachstum zu stärken sowie Prozesse effizienter zu machen. Ich erhoffe mir, dass IT und OT noch stärker verschmelzen, um digitale Lösungen entwickeln und nahtlos von der Cloud bis zur Edge effizient implementieren zu können.

Felix Hanisch: Wir müssen die Kohlenstoffkreisläufe schließen, d. h. die Wertschöpfung beginnt nicht mehr am Bohrloch, sondern beim Rezyklat. Prozesswärme wird erneuerbar-elektrisch erzeugt werden, nicht fossil. Und damit diese Konversion fair und ehrlich läuft und nicht grün gewaschen wird, braucht es Transparenz – und die basiert auf Daten. Wir werden eine vollständige, digital automatisierte und zertifizierte Emissionsbilanz der gesamten Stoffkreisläufe benötigen. Jedes Produkt wird über das digitale Typenschild nicht nur seine Produkteigenschaften und das Bedienhandbuch mitbringen, sondern auch seinen „CO2-Rucksack“ und seine Zusammensetzung offenlegen, um seinerseits wieder Eingang in nachgelagerte Firmen- und Produktbilanzen zu finden. Ganz nebenbei stehen damit dann alle Daten zur Verfügung, um Prozesse auch firmenübergreifend optimieren zu können und nicht in lokalen Suboptima stecken zu bleiben.

In welchen Technologien sehen Sie die größten Chancen?

Jens Kroneis: In der smarten Analyse riesiger Datenmengen steckt enormes Potenzial. Mithilfe von künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen lassen sich z. B. frühzeitig Anomalien im Anlagenkontext erkennen und rechtzeitig beheben. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist die effiziente Verfügbarmachung geeigneter Daten.

Michael Przytulla: Das größte Verbesserungspotenzial, bei überschaubarem finanziellen Einsatz, steckt meiner Meinung nach im digitalen Informationsprodukt. Heute fehlt es oft an der durchgehenden Verknüpfung von Informationen, z. B. Anlagenplänen, Bedienungsanleitungen und Ersatzteillisten. Ersatzteilverfügbarkeiten und -abmeldungen müssen zukünftig immer aktuell verfügbar sein. Nur so lassen sich Stillstände und Reparaturzeiten weiter verkürzen und Kosten minimieren.

Welche Hürden müssen noch überwunden werden?

Christian Bünger: Ohne Menschen funktioniert Digitalisierung nicht. Es ist unwahrscheinlich, dass in einer nahen Zukunft Maschinen oder Algorithmen die Entwicklung und Produktion von Chemikalien übernehmen können. Daher ist Weiterbildung extrem wichtig, um die derzeit rund 467 000 Beschäftigten der Branche für die digitale und zirkuläre Transformation fit zu machen und sie dafür zu begeistern.

Michael Przytulla: Insellösungen haben ausgedient, da digitale Inhalte global verteilt werden. Was also ist zu tun? Verfahren müssen schneller entwickelt werden und einen leichten Transfer ermöglichen. Mit digitalen Hilfsmitteln wird es sicher gelingen, ein Produkt in den richtigen Prozess einzubinden. Hier helfen die Visualisierung der Anlage, der papierlose Datenaustausch im Data Management System und ein durchgängiges Asset-Management während des Lebenszyklus der Anlagen und Komponenten. Dabei erleichtern Smart Devices die Steuerung und Auswertung. Doch bitte abgesichert, unter strikter Beachtung der industriellen Cybersicherheit.

Jens Kroneis: Innovationen müssen sich in der Prozessautomatisierung schnell umsetzen lassen, um Potenziale unmittelbar nutzbar zu machen. Das betrifft etwa die Connectivity. Im Produktionsumfeld müssen Systeme und Daten z. B. über einheitliche Datenmodelle oder herstellerunabhängige Kommunikationsstandards direkt zugänglich sein. Großes Potenzial steckt auch im weiteren Ausbau von autonomen mobilen Robotersystemen in der Prozessindustrie.

Welche Impulse erwarten Sie von der Achema diesbezüglich?

Christian Bünger: Die Achema 2022 setzt mit dem Digital Hub wichtige Impulse, um die Digitalisierung in der Prozessindustrie greifbarer zu machen, alle relevanten Akteure zusammenzubringen und die Vernetzung sowie das Entstehen neuer Wertschöpfungsökosysteme voranzutreiben. Digitalisierung funktioniert aus unserer Sicht nur gemeinsam.

Gunther Kegel: Auf der Achema 2022, aber auch der Hannover Messe 2022 werden im Rahmen der Sonderschau MTP+NOA von ZVEI, Namur, Processnet und VDMA, eine Reihe von Exponaten und Demonstratoren zu sehen sein, die entsprechende Impulse geben.
Michael Przytulla: Der Digital Hub auf der Achema 2022 bildet dort erstmalig die zentrale Anlaufstelle für Digitalisierungsthemen in der Prozesstechnik und kann ein „Think Tank“ werden.

Jens Kroneis: BASF hat gemeinsam mit Bayer, Boehringer Ingelheim, Merck und Wacker die Advanced Industrial Robotic Applications (AIRA)-Challenge ins Leben gerufen. Dabei wird unter der Schirmherrschaft der Namur nach Lösungen gesucht, um Routineaufgaben in Chemieanlagen zu automatisieren und damit zur Sicherheit in den Anlagen maßgeblich beizutragen. Die ausgewählten Finalisten können auf der Achema ihre Systeme erproben. Unser Ziel ist es, so viele innovative Lösungen kennenzulernen und den technischen Fortschritt zu fördern.

Felix Hanisch: Von der Achema erwarte ich mir Einblicke in diese Digitalisierungstrends: Ethernet-APL als Datenautobahn für die Prozessautomatisierung. Modulare Produktion und „plug and produce“-Konzepte mittels Module Type Package. Standardisierte Datenmodelle und -schnittstellen wie zum Beispiel NOA – Namur Open Architecture, spezifikationskonform kaufbar.

Autor: Dr. Bernd Rademacher, Redakteur

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