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Wie Nachhaltigkeit in der Chemiebranche gelingen kann

Schönrechnen ist keine Lösung
Wie Nachhaltigkeit in der Chemiebranche gelingen kann

Eine Strategy&-Studie zeigt, welche Aspekte Unternehmen aus der Chemieindustrie bei der Umstrukturierung zu nachhaltigeren Prozessen berücksichtigen müssen. Dr. Volker Fitzner, PwC Global Chemicals Leader, und Ruirui Zong-Rühe, Strategy&-Direktorin Chemicals und ESG erklären, wie Chemieunternehmen ihre gesamte Wertschöpfung nachhaltiger aufstellen können.

Herr Fitzner, die Chemieindustrie gehört zu den energieintensivsten Branchen überhaupt und hat einen hohen Anteil an den weltweiten Emissionen. Ist die Erwartung an einen nachhaltigen Umbau in der nahen Zukunft überhaupt realistisch?

Volker Fitzner: Die Transformation zu nachhaltigen Prozessen und Strukturen wird natürlich nicht über Nacht erfolgen. Langfristig gesehen halte ich den Wandel aber durchaus für realistisch – nicht zuletzt auch deswegen, weil den meisten Unternehmen in Anbetracht der Regularien und des Marktdrucks gar nichts anderes übrig bleibt. Davon abgesehen bringt es aber vor allem Chancen mit sich, schon jetzt über die gesetzlichen Vorgaben hinaus Initiativen auf den Weg zu bringen und sich so auch bei Kunden als glaubwürdiger Partner für eine nachhaltige Transformation in Position zu bringen.

Die EU hat sich darauf verpflichtet, bis 2050 emissionsfrei zu wirtschaften. Was müsste die Chemieindustrie als Erstes tun, um dieses Ziel zu erreichen?

Ruirui Zong-Rühe: Der Chemiesektor nimmt eine zentrale Position in der Wirtschaft ein – die Erzeugnisse der Branche finden sich in unzähligen Produkten sämtlicher Industrien wieder. Dadurch sind Chemieunternehmen in der Lage, mit ESG-getriebenen Innovationen – E steht für Umwelt, S für Soziales und G für eine gute Unternehmensführung – die gesamte Wertschöpfungskette zu beeinflussen. Das Handlungsspektrum beginnt bei grundlegenden Ansätzen wie der Verringerung von Emissionen oder Abfällen und reicht bis zum Einsatz kohlenstoffarmer Produktionsmittel oder der Rückgewinnung spezieller Rohstoffe.

Können Sie Projekte nennen, die bereits erfolgreich in die Praxis umgesetzt werden?

Fitzner: Klar: BASF ist mit einer Beteiligung von 49,5% in den von Vattenfall geplanten, weltgrößten Offshore-Windpark in der holländischen Nordsee eingestiegen, der auf eine Kapazität von 1,5 GW ausgelegt ist. Den Strom aus ihrem Anteil am Windpark erwirbt die BASF über einen langfristigen Abnahmevertrag, der es der BASF ermöglicht, insbesondere ihren weltweit zweitgrößten Verbundstandort in Antwerpen in erheblichem Maße mit erneuerbarem Strom zu versorgen. Eine vergleichbare Projektidee zur Entwicklung eines Offshore-Windparks mit einer Leistung von 2 GW treiben BASF und RWE voran. Ein weiteres Beispiel ist die finnische Chemie-Firma Neste, die sich auf erneuerbare Kraftstoffe und Rohstoffe sowie auf Lösungen für die Kreislaufwirtschaft spezialisiert hat und ihre Innovationen sehr intensiv mit externen Partnern vorantreibt.

Welche Produktionsbereiche eignen sich besonders gut für eine Transformation Richtung Nachhaltigkeit?

Zong-Rühe: Prinzipiell eignet sich die gesamte Wertschöpfungskette dafür – und damit auch die meisten Produktionsbereiche. Wie weit die Eingriffe jeweils gehen können, hängt wiederum stark von den individuellen Verfahren ab. Gewisse Produktionsbereiche lassen sich beispielsweise ressourcenschonender und energieeffizienter gestalten, indem man die Prozesswärme zirkuliert und Nebenprodukte an anderer Stelle wieder als Einsatzstoff verwendet. Dadurch werden Rohstoffe, Energie und Emission reduziert. Darüber hinaus bieten sich auch alternative Herstellungsrouten, Katalyseverfahren und Trennmethoden an, um eine nachhaltigere und umweltfreundlichere Produktion zu forcieren, ohne qualitative Einbußen hinnehmen zu müssen.

Wie stellen Unternehmen sicher, mit der Fokussierung auf ESG-Innovationen nicht die Kundenbedürfnisse aus den Augen zu verlieren?

Fitzner: Die Teams der regionalen Geschäftseinheiten sollten sich weiterhin auf Produkt-, Service-, Prozess- und Geschäftsmodellinnovationen konzentrieren, die konkret auf die Kundenbedürfnisse einzahlen. Für die Erforschung von neuen Technologien im ESG-Kontext braucht es dagegen Innovationsteams auf Konzernebene, deren Arbeit auch die strategische Ausrichtung von Forschung und Entwicklung berücksichtigt. Bei unseren Recherchen für die Studie haben wir festgestellt, dass etwa zwei Drittel der von uns befragten Chemieunternehmen bis zu 30 % der Forschungszeit für die Suche nach neuen Ideen aufwenden. Ein Drittel der Unternehmen gliedert die zukunftsorientierte Forschung in eigenständige Einheiten aus, die auf langfristigere Ziele hinarbeiten.

Wie gelingt Unternehmen der Balanceakt zwischen nachhaltigen Innovationen, Unternehmenswerten und zufriedenen Stakeholdern?

Zong-Rühe: Um sämtlichen Stakeholdern einen Mehrwert zu bieten, müssen Unternehmen der Chemieindustrie ihre Innovationsstrategie unmittelbar an ihren Werten ausrichten. Dafür sind nicht nur klar definierte ESG-Ambitionen, sondern auch ein Aktionsplan sowie ein gründliches Verständnis des bestehenden ESG-Profils elementar. Die übergeordneten Ziele eines Unternehmens müssen bei der Entwicklung und Umsetzung einer Innovationsstrategie stets berücksichtigt werden, insbesondere wenn es um das operative Innovationsmodell und die wichtigsten Leistungsindikatoren geht.

Können Sie dafür ein konkretes Beispiel nennen?

Fitzner: Der niederländische Chemiekonzern DSM hat seine Strategie etwa an den Zielen für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen ausgerichtet. Das Unternehmen hat eine Initiative mit dem Namen „Brighter Living Solutions“ ins Leben gerufen, in dessen Zuge eine Reihe von Produkten und Dienstleistungen entwickelt wurden, die während ihres gesamten Lebenszyklus hohe Leistung mit sozialen und ökologischen Mehrwerten verbinden.

Wie gehen Unternehmen damit um, wenn sie nicht über die nötigen Kapazitäten oder Fähigkeiten für die Entwicklung von ESG-getriebenen Innovationen verfügen?

Zong-Rühe: Der Innovationsansatz verändert sich in Anbetracht der wachsenden Komplexität von ESG-Herausforderungen. Er wird offener, und die Innovationsökosysteme werden größer und vielseitiger. Das müssen Unternehmen aus dem Chemiesektor für sich nutzen. Der Ökosystem-Ansatz ist vor allem für ESG-Innovationen wichtig, die erhebliche Investitionen erfordern, deren Erträge aber ungewiss sind und weit in der Zukunft liegen können. Das spiegelt sich auch in unserer Studie wider: Etwa zwei Drittel der von uns befragten Unternehmen lagern einen Teil ihrer Forschung und Entwicklung aus.

Wie kann der Austausch in solchen Ökosystemen konkret aussehen?

Fitzner: Der Werkstoffproduzent Covestro organisiert beispielsweise öffentliche Wettbewerbe, bei denen die Teilnehmer spezielle Probleme lösen müssen und als Belohnung Preise oder sogar Jobangebote bekommen. Andere Unternehmen organisieren wiederum Crowdsourcing-Veranstaltungen oder Hackathons.

Wie hoch ist die Gefahr, dass Unternehmen den Einfluss ihrer ESG-Maßnahmen aus Imagegründen in ein besseres Licht rücken?

Zong-Rühe: Die Zahlen rund um ESG-Maßnahmen schönzurechnen bringt langfristig niemanden weiter, da sich falsche Tatsachen früher oder später auch auf das Geschäft auswirken. Wenn ich keinen wirklichen Impact erziele, kann ich daraus auch keine Mehrwerte schöpfen. Darüber hinaus wird die Erfassung der relevanten Kennzahlen für eine bessere Vergleichbarkeit zunehmend standardisiert und vereinheitlicht, sodass eine Verzerrung der Berichterstattung in Zukunft gar nicht mehr möglich sein wird. BASF hat beispielsweise mit der OECD und verschiedenen anderen Unternehmen die Value Balancing Alliance (VBA) gegründet, um einen branchenweiten Rechnungslegungs- und Berichtsstandard einzuführen, der ESG-Messungen einbezieht. Ziel ist es, eine standardisierte Methodik zu entwickeln, mit der Unternehmen ihre Wertbeiträge im ökonomischen, ökologischen und sozialen Bereich in einer leicht vergleichbaren Weise darstellen können.

PwC Strategy& (Germany) GmbH, München


Daniela Held

Redakteurin

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