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Der Teufel steckt im Detail

Elektrische Temperaturmessstellen unter SIL-Aspekt betrachtet
Der Teufel steckt im Detail

Jede Anlage der Chemieindustrie strotzt vor sicherheitsrelevanter Technik. Allein zur elektrischen Temperaturüberwachung werden abertausende Thermometer und Messumformer eingesetzt. Diese gewaltige Menge in ein funktionierendes Sicherheitskonzept zu betten, erfordert einen immensen Aufwand. Dazu kommt noch, dass man sich auf unterschiedliche Normen stützen muss. Die Anwendung der SIL-Bestimmungen (Safe Integrity Level) auf Temperaturmessstellen zeigt, dass der Teufel im Detail steckt.

Autor Andreas Cohrs Business Development Manager Sales Germany, Wika Alexander Wiegand

Während Anlagenplaner, messtechnisch gesehen, das „große Ganze“ entwerfen, haben Zulieferer die Aufgabe die einzelnen Komponenten passgenau bereitzustellen. Die Hersteller von Temperaturmesstechnik operieren dabei in einem Spannungsfeld zwischen mechanischen und messtechnischen Anforderungen, das im Laufe der Zeit immer größer geworden ist. Elektrische Thermometer sollen hohen Drücken, Temperaturen und Strömungen dauerhaft standhalten, aber auch bei starken Vibrationen oder aggressiven Substanzen einwandfrei arbeiten. Zugleich fordern die Anwender eine hohe Genauigkeit bei kurzen Ansprechzeiten, gepaart mit stabiler Signalverarbeitung und einer hohen Isolations-, Durchschlags- und EMV-Festigkeit.
Die technische Realisierung wird durch die Vielfalt internationaler Richtlinien und Standards keineswegs einfacher. Die SIL betreffende IEC/EN 61508 (für die Hersteller und Zulieferer von Ausrüstungen) und die damit verbundene IEC/EN 61511 (für die Prozessindustrie) zum Beispiel liefern konkrete Vorgaben. Doch erstrecken sie sich ausschließlich auf elektronische Systeme. Auf die Temperaturmessung angewendet, betrifft dies den Messumformer bzw. Transmitter. Den Sensor, also das eigentliche Thermometer, erfasst das SIL-Regelwerk demzufolge nicht.
SIL-Messstellen ganzheitlich betrachten
Da aber ein Thermometer ohne Messumformer bzw. umgekehrt keinen Sinn macht, müssen SIL-Messstellen zwangsläufig ganzheitlich beurteilt werden. Doch welcher Sensor passt? Konstruktionsspezifische Regelwerke für Temperaturfühler bieten reichlich Spielraum für Interpretationen. Nicht alle Unternehmen verfügen über eine ausreichend große Fachabteilung, alle auftretenden Fragen angesichts der Vielzahl von Standards bis ins Detail zu klären. Für sie bietet sich die Zusammenarbeit mit einem qualifizierten Hersteller an, der die entsprechenden Managementsysteme anwendet. Für die realen SIL-Komponenten fordert es die IEC/EN 61508 ohnehin.
Warum eine solche Kooperation tatsächlich eine ökonomische Lösung ist, lässt sich bei genauerer Betrachtung des Planungsaufwands für eine sicherheitsrelevante Temperaturmessstelle deutlich machen. Herzstück einer solchen Anordnung ist der Temperaturmessumformer im Anschlusskopf. Im hier dargestellten Fall handelt es sich um den Typ T32.xS von Wika. Dieser Messumformer kam vor acht Jahren auf den Markt und war bislang das einzige Gerät dieser Art, dessen Hard- und Firmware zugleich nach der SIL-Norm entwickelt und durch eine „vollständige Bewertung“ (Full Assesment) des TÜV Rheinland zertifiziert wurde. Der Transmitter eignet sich für den Einsatz in einer SIL-Applikation bis zur Stufe 3. Messumformer oder andere intelligente Geräte mit der Klassifizierung „Betriebsbewährtheit“ sind höchstens SIL-2-fähig.
Die Sicherheitsintegrität gemäß IEC/EN 61508 bezieht sich, wie eingangs erwähnt, stets auf ganze Systeme. Der Grad, den der Anwender anstrebt, ermittelt sich also aus der „SIL-Summe“ aller beteiligten elektronischen Komponenten, neben dem Messumformer also auch der Datenübermittlungsstrang zur Leitebene und die Verarbeitung der Werte dort.
Der Temperaturfühler ist im Anschlusskopf mit dem Transmitter verschaltet und somit ein Teil der sicherheitstechnischen Funktion (SIF). Da der Sensor aber keine Elektronik hat bzw. sich nicht selbst beurteilen kann, kann er keine SIL-Qualifizierung bekommen. Das heißt: Sensoren mit SIL-Zertifikat gibt es schlichtweg nicht, auch wenn dieser Begriff hin und wieder auftaucht. Gleichwohl muss die Tauglichkeit eines Fühlers unter SIL-Gesichtspunkten betrachtet werden. In der elektrischen Temperaturmessung der Prozessindustrie werden weltweit hauptsächlich zwei Arten verwendet: in Europa überwiegend das Widerstandsthermometer mit Pt100-Sensor, in der übrigen Welt das Thermoelement. Auf eine allgemein gültige Orientierung, welcher Sensor am besten mit der jeweiligen SIL-Anwendung harmoniert, können Anwender nicht zurückgreifen. Je nach Herkunftsregion, haben global anbietende Produzenten bei den zugrunde liegenden Kriterien oft ein unterschiedliches Verständnis.
Konkretere Richtlinie in Sicht
Um auf Nummer sicher zu gehen, müsste ein Anwender im Prinzip en detail fragen: Welche Konstruktion verbirgt sich hinter dem angebotenen Pt100? Welche Kontaktierung hat der Sensor? Welche Werkstoffe stecken in der mineralisolierten Mantelleitung des Messeinsatzes? Welche Qualität hat das Platin, aus welcher Legierung sind die Kupferdrähte? Der Aufwand ist heftig. Von der Namur ist in Kürze eine verbesserte Richtlinie zu erwarten. Sie hat sich intensiv mit dem Thema auseinander gesetzt und wird ihre Empfehlung NE24 „Anforderungen an Messeinsätze für Temperatursensoren zum Einsatz in eigensicheren Stromkreisen“ stärker konkretisieren.
Neben den rein technischen Maßgaben benötigen Anwender Werte für die designbedingte Ausfallwahrscheinlichkeit des Temperaturfühlers. Statistiken dazu finden sich in entsprechenden Nachschlagewerken, doch sind sie eher allgemein. Übertragen auf ein Auto, ließe sich aus solchen Informationen die Aussage ableiten: Bei guter Pflege hält ein Pkw mehrere 100 000 km. Aber jeder weiß, dass ein Rennfahrer den gleichen Wagen binnen Stunden zermürben könnte. Daher sollte man sich bei diesem Punkt der Messstellensicherheit auf die tatsächliche Anwendung konzentrieren, auf die Prozessbedingungen und ihre Extrema.
Schutzvorrichtungen im Visier
Stabilität und Genauigkeit der Temperaturmessung hängen wesentlich von der Vermeidung negativer Einflüsse ab. Das wiederum lenkt den Blick auf die Thermometerschutzarmatur, im vorliegenden Beispiel einer SIL-Messstelle besteht sie aus Schutzrohr, Halsrohr und Thermometeranschlusskopf. Das Schutzrohr erfüllt einen doppelten Zweck: Es schirmt den Fühler ab und ermöglicht zugleich eine Kalibrierung bei geschlossenem Prozess. Das vereinfacht die wiederkehrende Überprüfung, die für SIL-Messstellen laut Regelwerk vorgeschrieben ist.
Schutzrohre für sicherheitsrelevante Messstellen sind keine Einheitsware. Die Dimensionierung ihrer Widerstandsfähigkeit erfolgt bei Wika zum Beispiel auf der Basis einer selbstgeschriebenen Software unter Einbeziehung aller Prozessparameter. Das betrifft nicht nur die thermischen Einwirkungen und die aggressiven Substanzen. Die Konstruktion des Schutzrohrs muss Schwingungsbelastungen bruchsicher ertragen und gleichzeitig verhindern, dass die Schwingungen den Messeinsatz negativ beeinflussen und damit den Messwert verfälschen. Ein Transmitter teilt dem Leitsystem zwar jede Veränderung des Messwertes mit. Aber er kann nicht erkennen, was sie hervorgerufen hat: tatsächlich eine Temperaturänderung oder doch ein Sensorfehler.
Halle 11.1, Stand C3
prozesstechnik-online.de/cav0515454

Auf das Design kommt es an

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Kommentar

Bei Temperaturabschaltungen stehen Anlagenbetreiber im Rahmen des Managements der funktionalen Sicherheit vor einigen Herausforderungen. Das betrifft bereits die Spezifikationsphase, in der die Experten aus der Verfahrenstechnik/Chemie den Abschaltpunkt und die maximal zulässige Reaktionszeit der Sicherheitseinrichtung festlegen müssen. Der Aufwand steigt, je näher der Abschaltpunkt an der kritischen Temperatur im Prozess liegt und je kürzer die gewählte Reaktionszeit ist, um die Anlage in einen sicheren Zustand zu führen. Das Design der Messstelle richtet sich nach den genannten sicherheitsrelevanten Parametern und den vorherrschenden Prozessbedingungen, aber auch nach Einbauort und Gerätewahl.
Nach Installation von Messstelle, Sicherheitssteuerung und Aktor muss die Sicherheitsabschaltung validiert werden, das heißt, ein Nachweis über die Funktion der jeweiligen Sicherheitseinrichtung ist zu erbringen. Ist dies beim Erreichen der Temperatur im Abschaltpunkt noch relativ einfach, gerät die Prüfung der Sensorreak- tionszeit im eingebauten Zustand unter Prozessbedingungen zu einem sehr schwierigen Unterfangen. Im späteren Anlagenbetrieb muss jede Sicherheitseinrichtung regelmäßig einer Wiederholungsprüfung unterzogen werden. Untersuchungen innerhalb der Namur haben gezeigt, dass die Betreiber sehr unterschiedliche Prüfansätze nutzen. Je nach verwendeter Methodik, können sich so große Variationen in der Prüftiefe ergeben. Die bekannten Formeln zur SIL-Berechnung beziehen sich überwiegend auf eine Prüftiefe von 100 %. Doch nicht jede Prüfung erfüllt diese Voraussetzung. Darüber hinaus sehen Anlagenbetreiber die jährliche Wiederholungsprüfung wegen der Produktionsbeeinträchtigung durchaus kritisch. Deswegen überarbeitet die Namur derzeit ihre Empfehlung NE106 zwecks Optimierung der Prüfintervalle.
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