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Fataler Nocebo-Effekt

Medizin
Fataler Nocebo-Effekt

Fataler Nocebo-Effekt
Nur bei jedem zehnten Patienten wird bei einem EKG eine Störung diagnostiziert. Enthält man dem Patienten genau diese Information vor, entfaltet der Nocebo- Effekt seine Wirkung. Foto: nyul - Fotolia.com
„Wir müssen Ihr Herz untersuchen.“ Diese Aussage des Arztes trifft viele Patienten wie ein Faustschlag. Auf den Schock folgt die Angst, das weitere Leben in Krankheit fristen zu müssen oder gar einen Herzinfarkt zu erleiden. Und sie kann tatsächlich körperliche Folgen haben. „Nocebo-Effekt“ (lateinisch: „Ich werde schaden“) nennen Mediziner das Phänomen – in Anlehnung an den „Placebo-Effekt“, bei dem allein die Erwartung einer Heilung dem Patienten eine Besserung bringt.

Wie weit die Folgen einer solchen Angst vor Krankheit reichen, haben deutsche Wissenschaftler um Winfried Rief, Leiter der Klinischen Psychologie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Marburg, in einer Studie untersucht. Die Forscher beobachteten Patienten, die wegen Herzbeschwerden zum ersten Mal einen Kardiologen aufsuchten. Dieser ordnete ein Belastungs-EKG an – eine Routineuntersuchung. Nur bei jedem zehnten Patienten in einer solchen Situation wird eine krankhafte Störung diagnostiziert. Genau diese Information, dass nämlich „in 90 Prozent der Fälle alles in Ordnung ist“, bekam in den Tests die Hälfte der Probanden. Die zweite Patientengruppe hingegen ging ohne diese Information in den Test. Der Nocebo-Effekt tat seine Wirkung: „Bei den Probanden der ersten Gruppe verschwanden die Herzprobleme meist viel rascher als bei den Probanden aus Gruppe Nummer zwei“, berichtet der Wissenschaftsjournalist Klaus Wilhelm. Auch „kauften die Hälfte der Leute aus Gruppe zwei ihrem Arzt einen unauffälligen Befund nicht ab“, erläutert Rief. Die Probanden fühlten sich unsicher.
„Der Nocebo-Effekt spielt im modernen Medizinbetrieb eine immense Rolle. Und viele seiner negativen Folgen könnten wir verhindern“, folgert der Marburger Wissenschaftler aus seinen Ergebnissen. Der Psychosomatik-Experte Paul Enck von der Universität Tübingen kritisiert die von vielen Ärzten häufig „leichtsinnig dahergeredeten Verdachtsdiagnosen“. Da würden Mediziner manchmal beiläufig Begriffe wie „Tumor“ fallen lassen, was nahezu jeder Patient sofort als Krebsdiagnose auffasst, obwohl es auch gutartige Tumore gibt.
Der Nocebo-Effekt ist ein nach wie vor wenig erforschtes Terrain. Lediglich rund hundert wissenschaftliche Studien existieren zu dem Phänomen. Die extremste Erscheinungsform des Effekts hingegen ist in zahlreichen, wenn auch oft wenig glaubwürdigen Geschichten überliefert: Sie handeln vom „Voodoo-Zauber“, bei dem Menschen in Sprüchen und Beschwörungen der baldige Tod vorhergesagt wird – der denn auch eintritt, glaubt man den Berichten. Wie weit die Angst vor Krankheit und Tod beim Menschen tatsächlich reicht, ist in Laborversuchen aus ethischen Gründen nicht zu ermitteln. Forscher um den Psychologen Manfred Schedlowski von der Universitätsklinik Essen konnten jedoch in Versuchen mit Ratten einen deutlichen Zusammenhang nachweisen. Die Wissenschaftler verfrachteten die Tiere in eine enge Röhre und infizierten sie mit einem Bakterium. Die durch die Enge gestressten Nager starben daraufhin tatsächlich an der eigentlich harmlosen Infektion, während deren Artgenossen ohne den künstlich induzierten Stress dieselbe Infektion überlebten. Chronische Ängste könnten auch beim Menschen das Immunsystem so stark unterdrücken, dass es selbst Allerweltskeimen nicht mehr ausreichend Paroli bieten kann, vermutet Schedlowski.
Besonders weit verbreitet dürfte der Nocebo-Effekt bei Medikamenten und deren Nebenwirkungen sein, vermuten Wissenschaftler. Darauf deuten Studien hin, in denen Nebenwirkungen von Medikamenten untersucht wurden. Wurden Probanden vor der Gabe eines Mittels über dessen potenzielle Nebenwirkungen aufgeklärt, so entwickelten viele genau diese Symptome – auch wenn sie ein Zuckerpräparat ohne Wirkstoffe erhalten hatten. „Die Erwartung prägt den Nocebo-Effekt“, erklärt Winfried Rief, der in einem Test bei jedem fünften Patienten Nocebo-Nebenwirkungen beobachtet hat. Die Kosten der Nocebo-Effekte durch Medikamente würden allein in Deutschland auf zwei bis drei Milliarden Euro im Jahr geschätzt. Ulrich Dewald
Lesen
Hildegard Tischer: Heilende Einbildung – Medizin zwischen Placobo-Effekt und Wunderheilung, Verlagshaus der Ärzte, 2009, 14,90 Euro
Joachim Bauer: Das Gedächtnis des Körpers – wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern, Piper, 2005, 9,95 Euro
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