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Die Pharmaindustrie steht vor der Herausforderung, Instandhaltung 4.0 zu realisieren, und der Notwendigkeit, neue Anlagenarchitekturen und altes Erfahrungswissen mit aktuellen Messwerten und Daten zu verheiraten.

Auf die Balance kommt es an
Instandhaltung 4.0 realisieren

Eine Anlage instand zu halten bedeutet, den GMP-gerechten, produktionsfähigen Zustand durch die richtigen Maßnahmen zu sichern. Wie viele andere Branchen steht auch die Pharmaindustrie vor der Herausforderung, Instandhaltung 4.0 zu realisieren, und der Notwendigkeit, neue Anlagenarchitekturen und altes Erfahrungswissen mit aktuellen Messwerten und Daten zu verheiraten.

Ein prüfender Blick auf die Anzeige der Messgeräte, auf Pumpe, Ventil oder die Verpackungszuführung: ein Ingenieur, der für die Instandhaltung dieser Komponenten in der Pharmaindustrie zuständig ist, hat eine verantwortungsvolle Aufgabe. Denn die Funktionsfähigkeit der Anlage zur Medikamentenproduktion hängt von ihm ab. Sein Wissen, seine Kenntnis der Prüf- und Qualitätsvorschriften und natürlich der Produktionsanlage sind notwendig, um bei Betriebsunregelmäßigkeiten einen sicheren und produktiven, GMP-gerechten Zustand der Anlage schnell wiederherzustellen.

Nicht nur in der chemischen, auch in der Pharmaindustrie sind die Produktionsanlagen heute deutlich komplexer als noch vor wenigen Jahren. Die Menge der Baugruppen und Bauteile hat exorbitant zugenommen. Längst schon reicht es nicht mehr aus, mit prüfendem Blick die Anlage regelmäßig zu inspizieren. Dabei ist besonders in der Pharmaindustrie eine suboptimale Instandhaltung nicht nur gleichbedeutend mit kostspieligen Stillstandzeiten, sondern vielmehr eine Frage der Produktsicherheit für den Menschen, für den Patienten und zuweilen auch eine Frage der Sicherheit für die Umwelt.

Instandhaltung als Voraussetzung für GMP

Durch eine gute Instandhaltung lässt sich die Betriebssicherheit verbessern, die Lebensdauer der Prozessanlage verlängern und die Anlagenverfügbarkeit durch effizient geplante und optimierte Betriebsabläufe einschließlich der geplanten Wartungsstillstände optimieren. Doch nicht nur das. In der Pharmaindustrie ist Instandhaltung auch wesentlicher Bestandteil einer GMP-gerechten Produktion. Denn der einmal qualifizierte Zustand einer pharmazeutischen Produktionsanlage darf sich auch zu einem späteren Zeitpunkt nicht verändern. Die Instandhaltung besitzt daher in dieser Branche eine ganz besondere Bedeutung. Wo es in der chemischen Industrie noch alleine um vorbeugende und korrektive Instandhaltung im Sinne einer maximalen Anlagenverfügbarkeit geht (DIN EN 13306), definiert der GMP-Berater Instandhaltung als die „Gesamtheit aller Maßnahmen zur Bewahrung des Sollzustandes sowie zur Festlegung und Beurteilung des Ist-Zustandes von technischen Mitteln einer Anlage, Maschine oder Raumes (nach DIN 31051).“ Und weiter: „Instandhaltung beinhaltet daher alle Maßnahmen wie Inspektion (Prüfung), Instandsetzung (Reparatur) und Wartung.“.

Vorbeugende Instandhaltung nach festem Zeitplan

In früheren Jahren galt die vorbeugende Instandhaltung als Stand der Technik. Hier wurden nach Schwachstellenanalysen und dem Auswerten der Maschinendaten die Prozessanlagen geplant heruntergefahren. In vorab definierten Zeitfenstern wurden Bauteile gewartet oder ausgetauscht, um unvorhergesehene Störungen zu verhindern. Unnötige Kosten verursachte diese Methode deshalb, weil häufig auch Bauteile getauscht wurden, die noch funktionsfähig waren. In den Folgejahren wurden verschiedene Konzepte diskutiert: ausfallorientierte, vorbeugende oder zustandsorientierte Instandhaltung. Die Anlagenbetreiber stellten sich außerdem vielfach die Frage: Instandhaltung outsourcen oder lieber das Know-how inhouse belassen?

Heute sieht sich die Pharmaindustrie auch in der Instandhaltung mit dem Thema Industrie 4.0 konfrontiert: Die Menge der zur Verfügung stehenden Daten als Basis für eine kostenoptimierte Instandhaltung nimmt massiv zu. Der digitale Zwilling einer Prozessanlage soll hierbei die kostenoptimierte Instandhaltung unterstützen.

Digitaler Zwilling und digitaler Assistent

Im digitalen Zwilling werden virtuelle und reale Welt gekoppelt. So lassen sich Daten analysieren und die gesamte Anlage überwachen. Unzulässige Betriebszustände können schon in der Entstehung verstanden und verhindert werden, bevor sie überhaupt auftreten.

Eine besondere Bedeutung bekommt der digitale Zwilling einer Anlage in der Pharmaindustrie, da in der Wirkstoffherstellung neben hoher Anlagenverfügbarkeit und der GMP-gerechten Produktion auch die Flexibilität von großer Bedeutung ist. Individuelle Formulierungen und vergleichsweise schnelle Produktwechsel erfordern in Zukunft den Einsatz modularer Anlagen. Dadurch sinkt die Komplexität im Engineering, bei der Inbetriebnahme und in der Instandhaltung.

Außerdem hilft ein digitaler Zwilling als digitaler Assistent ganz konkret dem Mitarbeiter in der Anlage. Dazu zeigte beispielsweise das Fraunhofer Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung IFF auf der letztjährigen Hannover Messe ein Augmented-Reality-Assistenzsystem für die Instandhaltung. Grundlage dafür ist das digitale Datenabbild der Anlage. Die virtuelle Welt bietet via Tablet oder Brille Zugriff auf die Dokumentation und die Zustandsdaten der Anlage. Das Datenmodell der Anlage informiert bei Störungen und hilft mit Erfahrungswissen – sofern dieses eingepflegt wurde. Dem Träger einer Mixed-Reality Brille werden beim Blick auf die Anlage beispielsweise der aktuelle Betriebszustand eines Rührwerks angezeigt oder der verbleibende Abnutzungsvorrat prognostiziert. Bei Störungen können interaktive Handlungsempfehlungen aufgerufen werden. Videobasierte Anleitungen für die Werker sind eine weitere Anwendungsmöglichkeit dieser immer ausgereifteren Technologie.

Der digitale Zwilling der Anlage entsteht im Idealfall direkt im Engineeringprozess. Doch das Fraunhofer IFF hat auch Lösungen zum nachträglichen Bereitstellen digitaler Zwillinge für Bestandsanlagen entwickelt. Wichtig ist hierbei, dass sich die Lösungen mit den Digitalisierungsansprüchen der Unternehmen erweitern lassen. Neben dem Fraunhofer Institut IFF bietet zum Beispiel auch Bilfinger Maintenance das auf der Achema vorgestellte Tool Pidgraph an, das basierend auf R&I-Schema eine Anlage digitalisieren kann.

Predictive Maintenance ist das Ziel

Um eine vorausschauende Wartung kostenoptimiert betreiben zu können, ist es erforderlich, sehr große Datenmengen zu erfassen und richtig zu interpretieren. Daher lässt sich diese Instandhaltungsstrategie auch deutlich von der reaktiven oder präventiven Wartung abgrenzen. Die präventive Wartung basiert auf Daten der Vergangenheit, während Predictive Maintenance Daten nutzt, die in Echtzeit eingespeist werden oder durch Simulation gewonnen wurden. Auf Basis dieser Daten werden zukünftige Instandhaltungsmaßnahmen festgelegt. Zum Optimieren der Kosten und dem wirksamen Verhindern von Störungen ist es wichtig, den optimalen Zeitpunkt für die jeweilige präventive Wartungsmaßnahme zu finden.

Im Forschungsprojekt Sidap unter Federführung der Technischen Universität München wird beispielsweise untersucht, inwieweit aus den großen Datenmengen einer Anlage sinnvolle Zusammenhänge aufgespürt werden können und wie sich darauf basierend neue Instandhaltungsstrategien entwickeln lassen. Dabei sollen auch Module entwickelt werden, die Expertenwissen einbinden. „Die Interaktion zwischen datengetriebenen Modellen und dem Menschen spielt eine enorme Rolle“, erklärt Prof. Dr.-Ing. Birgit Vogel-Heuser, TU München, eine der Lektionen aus dem Sidap Projekt. „Das bisherige Ziel datengetriebener Analysen bestand meist darin, aus den Daten ein Ergebnis zu ermitteln und dieses auszugeben. In Zukunft müssen Modelle und Analyse mit dem Benutzer interagieren und auf benutzerspezifische Anforderungen reagieren.“ Solche kontextsensitive Analysen ermöglichen zum einen Wissen des Benutzers miteinfließen zu lassen. und zum anderen die Ergebnisse effizient in Information umzuwandeln. Dazu ist natürlich eine geeignete Visualisierung notwendig. Denn es hat sich im Laufe des Forschungsprojekts herausgestellt, dass viele erkannte Fehler zwar durch Angaben in der Instandhaltung bestätigt werden konnten, aber auch, dass ein relativ hoher Prozentsatz an Fehlalarmen durch Anlagenanomalien oder instationäre Betriebsbedingungen ausgelöst wurde. Im Praxisbetrieb würden solche Fehlalarme das Vertrauen der Mitarbeiter in das System sehr schnell schwinden lassen.

Menschliches Wissen bewahren

Heute ist eine erfolgreiche Fehlersuche ohne digitale Unterstützung meist das Resultat aus Erfahrung, Fachwissen und der Kenntnis um die „Aktionen“ der Anlage vor dem Fehler. Denn auch wenn der Trend eindeutig Richtung Digitalisierung geht, so können noch so viele Daten und Algorithmen derzeit noch nicht das Wissen der Mitarbeiter ersetzen, die eine Anlage seit vielen Jahren betreuen und deren „Herzschlag“ spüren. Doch die Fluktuation der Mitarbeiter nimmt zu, eine ganze Generation steht kurz vor dem Ruhestand, Nachwuchskräfte fehlen vielerorts.

Die Angst vor dem Verlust dieses Know-hows ist ein wichtiger Treiber für die Digitalisierung in der Instandhaltung. In der Pharma-Prozessindustrie kommt ein weiterer hinzu: Hier muss die Dokumentation eines Prozesses bzw. zur Herstellung eines Wirkstoffes regelkonform – und das bedeutet umfassend vorgehalten werden.

Instandhaltung – ein Markt mit Zukunft

Für die Instandhaltung der Zukunft ist der digitale Zwilling einer Prozessanlage nicht mehr wegzudenken. Außerdem müssen sehr große Datenmengen aus der Feldebene sinnvoll miteinander in Bezug gesetzt werden, um aus den Auswertungen Handlungsempfehlungen ableiten zu können. Weitere Ansätze sind Module, die Expertenwissen zur Fehlerbewertung heranziehen und / oder selbstlernende Systeme. Aber auch diese müssen zuvor mit sehr vielen Daten trainiert werden und sind nur so gut wie die Daten, die zum Training zur Verfügung stehen.

Die Daten und Messwerte kommen dazu aus sehr unterschiedlichen Quellen: aus Produktionsplanungssystemen, aber auch bereits aus der Feldebene dank smarter Sensoren an der Anlage. Oder sie kommen von Komponenten, die über eine eigene Intelligenz verfügen wie zum Beispiel Pumpen und Kompressoren. Solche inhomogenen Datenflüsse zu standardisieren und richtig zu interpretieren, bedarf einer speziellen IT-Technologie und eines spezifischen Knowhows. Die Frage, inhouse instandhalten oder outsourcen und einen Dienstleister mit in Boot zu nehmen, stellt sich somit für kleine und mittlere Unternehmen in Zukunft wohl nicht mehr.

Daher wird dem Markt für Predictive Maintenance ein sehr hohes Wachstum vorhergesagt: Laut einer Analyse von IOT Analytics haben Unternehmen aus der ganzen Welt im Jahr 2016 rund 1,5 Mrd. US$ für Technologien im Bereich der vorausschauenden Instandhaltung ausgegeben. Im Jahr 2018 sollen sich die Investitionen auf zirka 3,0 Mrd. US$ und im Jahr 2022 auf fast 11 Mrd. US$ belaufen. Sollten diese Vorhersagen eintreffen, würde der Markt für Predictive Maintenance im Durchschnitt pro Jahr um 39 % wachsen.

Die Kunst für die Anlagenbetreiber wird sein, selbst zu beurteilen, inwieweit und mit welchem Aufwand sich das Fingerspitzengefühl ihrer Mitarbeiter digitalisieren lässt. Und inwieweit bereits validierte Prozesse durch Maßnahmen der digitalisierten Instandhaltung effizienter und gewinnbringender werden können. Gewonnen hat in diesem Spiel, wer die richtige Balance zwischen Mensch, IT und Kosten findet.

www.prozesstechnik-online.de

Suchwort: phpro0219instandhaltung


Autorin: Christine Koblmiller

Fachjournalistin


Dr. Ingo Thorwest, Global Head of Maintenance für Human Pharma, Boehringer Ingelheim
Bild:  Boehringer Ingelheim

Nachgefragt:  Inwieweit ist die Instandhaltung digitalisiert?

Die Digitalisierung schreitet auch für die Instandhaltung in der Pharmaindustrie voran. Worin sehen Sie bei dieser Entwicklung den größten Nutzen?

Dr. Ingo Thorwest: Großen Nutzen sehen wir im Bereich GMP, gerade bei der Dokumentation von Maschinendaten ohne Medienbrüche direkt im Wartungsprotokoll. Bisher mussten die Daten zunächst abgelesen und auf einem Formblatt notiert werden, bevor der Eintrag ins System erfolgte.

Was die Effizienz angeht, so rechnen wir für jeden Instandhaltungsauftrag, der papierlos abgewickelt wird, mit einer Verkürzung der reinen Bearbeitungszeit von sechs Minuten, was bei weit über drei Millionen Aufträgen pro Jahr weltweit signifikante Einsparungen ausmacht.

Welche Aufgaben hat heute der Mitarbeiter für Instandhaltung in Ihrem Unternehmen? Welches sind die größten Herausforderungen im Arbeitsalltag – und wie gehen Sie diese an?

Dr. Ingo Thorwest: Unsere Mitarbeiter beschäftigen sich im Schnitt zu 30 % mit vorbeugender Wartung, die restliche Zeit mit Reparaturen. Diese sind dank regelmäßiger Inspektionen oft im Vorfeld planbar, was Beeinträchtigungen der Produktion vermindert. Ziel ist es, ungeplante Reparaturen möglichst auf null zu reduzieren.

Um die Digitalisierung der Instandhaltung voranzutreiben, helfen Leistungsdialoge, die regelmäßig zwischen Produktion, Technik und Quality stattfinden und in denen alle Vorkommnisse und abzustellende Maßnahmen besprochen werden. Einige Standorte pflegen zudem detaillierte Stillstandanalysen.

Der Instandhaltungsmitarbeiter der Zukunft sollte die Verfügbarkeit der Maschinen optimieren und Stillstände vermeiden, anstatt sie zu beheben.

Predictive Maintenance ist die Zukunft der Instandhaltung. Wie bereiten Sie Ihre Mitarbeiter schon heute darauf vor?

Dr. Ingo Thorwest: Wir haben als Vorstufe der vorbeugenden Wartung bereits verschiedene zustandsbasierte Wartungselemente installiert, etwa Öl-, Vibrations- und Ultraschallanalysen sowie Infrarot-Thermographie. Das bauen wir weiter aus.

In globalen Austauschmeetings bringen wir uns regelmäßig auf den neuesten Stand und übertragen Best Practices. Die digitale vorbeugende Wartung ist vereinzelt bereits ganzheitlich umgesetzt. Unser Standort Ingelheim soll als „Blaupause“ für die Digitalisierung der Instandhaltung ausgebaut werden. Der Plan ist, das Konzept dann sukzessive standortübergreifend zu integrieren. Mit ersten Ergebnissen rechnen wir in diesem Jahr, die vollständige Umsetzung möchten wir bis 2021 abschließen.

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