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Kontinuierlich Prozesse optimieren

Empirische Modelle als Softsensor am Beispiel der HCN-Synthese
Kontinuierlich Prozesse optimieren

Eine Grundvoraussetzung für die kontinuierliche Optimierung von Produktionsprozessen sind genügend aktuelle Informationen aus Anlagenmessungen. Qualitätsmessungen/-analysen in Echtzeit stehen in der Regel entweder gar nicht oder nur sehr aufwändig mit zeitlichem Verzug zur Verfügung und verhindern das weitgehende Ausschöpfen des finanziellen Potenzials von APC- und Online-Optimierungsapplikationen. Software basierte Sensoren (Softsensoren) dagegen erweisen sich als sehr effektiv, dieses Problemfeld weitgehend aufzulösen.

Dr. Gerd Kloeppner

Die Entwicklung von Softsensoren folgte insbesondere der Erkenntnis, dass die Kombination von schnellen fortgeschrittenen Regelkonzepten (APC) mit Produktanalysatoren, die lange Totzeiten aufweisen, bei Änderungen der Betriebsweise, z. B. Einstellen eines neuen Betriebspunktes nach Durchsatz- und/oder Produktänderungen, zu ungenügendem Nutzen der APC-Applikationen führt. Dies ist vor allem während des Übergangs von einem Betriebspunkt zum anderen von erheblicher praktischer Bedeutung. Folgendes kurzes Beispiel soll dies verdeutlichen:
Die Produktqualitäten einer komplexen Destillation (z. B. Rohöldestillation) werden mittels 2 GC-Analysatoren und einer Labormessung (1x/Tag) bestimmt. Die zwei mit GCs analysierten Produktqualitäten sind Bestandteil von APC-Regelungen (Contraint Controller). Die Totzeiten je Analysatormessung betragen ca. 30 Minuten. Als dritte Produktqualität wird eine Viskosität im Labor bestimmt. Die Einstellung eines neuen Betriebspunktes erfordert dann ein Vielfaches der Summe der einzelnen Analysator-Totzeiten (je nach Anzahl der Eingangsgrößen in die APC-Regelungen, des Totzeitverhaltens der Destillationskolonne etc.). Die Viskositätsmessung kann nicht direkt in eine APC-Regelung integriert werden.
Zur Lösung dieser Problematik stehen dem Anlagenbetreiber zwei Vorgehensweisen unter Berücksichtigung der Aspekte Kapital- und Wartungskosten zur Auswahl:
• Installation und Implementierung von schnellen Analysatoren (z.B. Fast Loop, relativ hohes Invest und Wartung)
• Installation und Implementierung von Softsensoren (relativ niedriges Invest und Wartung)
Rigorose Softsensoren
Softsensoren berechnen Stoffwerte, basierend auf einem angepassten mathematischen Modell. Je nachdem, auf welche Art und Weise die Modellierung erfolgt, kann in rigorose Softsensoren und empirische Softsensoren unterschieden werden. Rigorose Softsensoren beinhalten explizit die physikalischen Erhaltungssätze als formalen Zusammenhang und erlauben so, zumindest theoretisch, die direkte quantitative nicht lineare Zuordnung der abhängigen und unabhängigen Variablen. Daraus resultiert der inhärente Vorteil rigoroser Modelle, den Einfluss der verschiedenen unabhängigen Variablen gegebenenfalls getrennt voneinander untersuchen zu können. Allerdings hängt bekannter Weise das Resultat (und damit die praktische Anwendung) nicht linearer Gleichungen bzw. Gleichungssysteme entscheidend vom Ausgangszustand und damit dessen exakter Kenntnis ab. Der Ausgangszustand ist jedoch in der Regel nicht hinreichend genau bestimmbar (u. a. makroskopische Messfehler), so dass letztendlich jedes rigorose Modell eines Softsensors mit empirischen Anpassungsparametern versehen werden muss. Beispielsweise dienen die Einteilung in Kolonnensektionen und die Einführung von Trennfaktoren dem Zweck, als Modellparameter das rigorose Modell der Wirklichkeit anzupassen. Somit handelt es sich streng genommen hierbei auch nicht mehr um reine rigorose Modelle, die alle zwangsläufig streng die Aufgabe beschreiben, sondern um rigorose Modelle mit empirischen Modellparametern. Bei geeigneter Auswahl sind diese rigorosen Modelle trotz der erwähnten erforderlichen Einschränkungen sehr gut in der Lage, unter Berücksichtigung verfahrenstechnischer Kenntnisse, Nicht-Linearitäten hinreichend zu beschreiben. In der Praxis werden solche Modelle für Softsensoren weiter gestrafft, um die Integration in APC-Regelungen auf dem Prozessleitsystem zu ermöglichen. Problematisch bleibt, dass rigorose Softsensoren bestimmte Stoffeigenschaften wie Viskosität von Ölen oder Farbzahl nicht deterministisch berechnen können.
Empirische Softsensoren
Empirische Softsensoren basieren auf statistischen Modellen und erfordern auf den ersten Blick weniger detaillierte Verfahrenskenntnisse: die abhängige Variable wird in Abhängigkeit von den wesentlichen Betriebsparametern korreliert. Dafür haben sich zwei unterschiedliche Vorgehensweisen herausgebildet: lineare Modelle, basierend auf der Minimierung der Fehlerquadratsumme (Partial Least Squares PLS) – dazu gehört die weiter unten näher beschriebene Faktor-Netzwerk-Analyse -, und künstliche neuronale Netzwerke. In jedem Fall ist es notwendig, die unabhängigen Prozessvariablen sorgfältig auf Interkorrelationen zu prüfen, um ein zuverlässiges Modell zu erhalten. Deshalb wird in der Regel eine Principal Component Analysis (PCA) der Modellierung vorangestellt, um die Modellgleichungen in Abhängigkeit linear unabhängiger Parameter (orthogonale Faktoren) darstellen zu können.
Empirische Modelle, basierend auf der Faktor-Netzwerk-Analyse, haben gegenüber künstlichen neuronalen Netzwerken praktische Vorzüge:
• vergleichsweise geringe Anzahl historischer Daten erforderlich
• in Verbindung mit PCA explizite Darstellung der Korrelationen zwischen Prozessvariablen zu Faktoren und zu abhängigen Variablen
• explizite lineare Gleichung für den empirischen Softsensor (einfach im Prozessleitsystem zu implementieren)
Dadurch lassen sich nicht nur sehr schnell empirische Softsensormodelle entwickeln und testen, sondern gleichzeitig die zugrunde liegenden Prozessdaten auf ihre Abhängigkeiten bzw. quantitativen Einflüsse untereinander und auf die abhängige Prozessvariable analysieren.
Beispiel für empirischeSoftsensoren
Bei der HCN-Synthese werden Methan, Ammoniak und Sauerstoff zu HCN über einem Platinnetz zu HCN umgewandelt. Der in den dreißiger Jahren von Andrussow beschriebene Prozess wurde industriell kontinuierlich weiterentwickelt. Die ablaufenden Elementarschritte der chemischen Reaktion (Reaktionsmechanismus) sind allerdings bis heute nicht abschließend geklärt und somit ein hervorragendes Anwendungsfeld für ein empirisches Reaktormodell (Kinetik + Verweilzeitverhalten). Da in diesem Fall Ziel des Reaktormodelles die Ausbeute an HCN ist, ist das Reaktormodell gleichbedeutend mit einem Softsensor. Basierend auf vorliegenden Betriebsdaten wird mittels PCA und Faktoren-Netzwerk-Analyse ein exemplarischer Softsensor entwickelt.
Der Vergleich zwischen Messreihen und empirischem Modellansatz zeigt hinreichende Genauigkeit und ist in Abbildung 2 dargestellt. Der Korrelationskoeffizient der HCN-Ausbeute gemessen/modelliert beträgt hier R² = 0,82. Die lineare explizite Gleichung des Softsensors ist vergleichsweise einfach als Block im Prozessleitsystem programmierbar. Sie lässt sich als zusätzliche Anzeige in Fließbildern darstellen und als weitere Regelgröße verwenden. Der Anlagenfahrer kann somit direkt auf die Information des Softsensors zugreifen und steuern, ohne auf eine zeitlich verzögert vorliegende Laboranalyse warten zu müssen. Die Modellparameter sind dann in geeigneten Intervallen zu ermitteln und in das Prozessleitsystem zu übertragen. Eine solche HCN-Softsensor-Applikation steht vor der betrieblichen Realisierung.
Für die hier diskutierte einfache (lineare) Verfahrensführung (z. B. ohne NH3-Rückführungen) ist der Softsensor identisch mit dem Reaktormodell und somit z. B. direkt als Prozessmodell zur Optimierung des aktuellen Betriebspunktes geeignet. Für komplexere Fragestellungen, z. B. der Online-Optimierung paralleler Reaktorlinien oder die Berücksichtigung der weiteren Verfahrensschritte einer HCN-Synthese (Wäsche, Destillation, NH3-Rückführung etc.) ist ein komplexeres rigoroses Prozessmodell, das dann allerdings die empirischen Reaktormodelle integriert, erforderlich (Abb. 3). Diese komplexen Prozessmodelle stellen somit eine sinnvolle Kombination zwischen den anfangs diskutierten rigorosen und empirischen Modellierungsansätzen dar.
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