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Wer lebt, der altert

Feldbusse als Störfaktor in der Verfahrenstechnik
Wer lebt, der altert

Keiner würde bei Chemieanlagen jemals auf die Idee kommen, auf regelmäßige Instandhaltung zu verzichten. Allen Beteiligten ist bewusst, dass nur durch regelmäßige Inspektionen der Ist-Zustand ermittelt und durch eine vorbeugende Instandhaltung die langfristige Funktionsfähigkeit garantiert werden kann. Die Begriffe der vorbeugenden Instandhaltung aus der Mechanik jetzt auf Feldbusse zu übertragen, fällt Elektronikern und Prozess-Automatisierern aber oft sehr schwer. Ein vermeidbarer, grober Fehler, meint Karl-Heinz Richter, Geschäftsführer für Marketing & Vertrieb bei der Indu-Sol GmbH im cav-Interview.

Dipl.-Ing. (FH) Nora Crocoll, Dipl.-Ing. (FH) Dietrich Homburg

cav: Herr Richter, Sie besuchen regelmäßig Profibus- und Ethernet-Foren. Welche Trends sehen Sie in diesem Bereich?
Richter: Hersteller von Feldbusgeräten propagieren heute immer mehr, ihre Geräte und Feldbusse seien einfach und schlicht. Gleichzeitig gibt es in dem Bereich jede Menge verschiedene Protokolle. Das erscheint mir widersprüchlich. Schlimmer aber noch finde ich, dass Foren generell die Themen Instandhaltung, Wartung und Service von den verschiedenen Netzwerken außen vor lassen.
cav: Warum ist die Instandhaltung kein Thema für die Feldbustechnik und das uns allen bevorstehende Industrial Ethernet?
Richter: Dazu müssen wir ein bisschen zurück in die Geschichte der Industrialisierung blicken. In der Mechanik ist die Instandhaltung schon aus der Historie heraus ein wichtiges Thema. Wer mit Pumpen, Walzen und dergleichen zu tun hat, rechnet mit Verschleiß. Zudem machen DIN-Normen, wie beispielsweise die DIN 31051 „Grundlagen der Instandhaltung“, klare Vorgaben zu turnusmäßigen Wartungen und Ins-pektionen. Sich mit Abnutzung auseinanderzusetzen, ist in der Mechanik normal. Die Elektriker und Automatisierungstechniker dagegen tun sich mit Begriffen wie „Abnutzungsvorrat“ sehr schwer. Dort herrscht immer noch die Meinung vor: „Wenn der Bus geht, dann geht er.“
cav: Warum ist diese Einstellung nicht richtig?
Richter: Sehen Sie, wer lebt, der altert auch. Der Bus ist in diesem Sinne wie ein Lebewesen. Abgesehen von den Bauteilalterungen, beeinflussen ständig Kühlmittel, Temperatureinflüsse, Feuchtigkeit, Sonneneinstrahlung und unzählige Wechselbiegebeanspruchungen in den Schleppketten die Feldbusleitungen über ihre Lebenszeit. Die Leitungsimpedanz ändert sich, damit die Signalform und somit die gesamte Qualität der Kommunikation auf dem Bus. Das Problem ist, dass Anlagenbetreiber oft den aktuellen Zustand des Busses gar nicht kennen. Das optische Signal einer grünen LED heißt zuerst zwar „geht…“ – kann aber auch bedeuten „geht gerade noch.“ Hier muss man sich fragen „Wie lange noch?“. Den eigentlichen Zustand des Busses kann man aber nur durch eine messtechnische Ist-Analyse feststellen und somit Rückschlüsse auf evtl. Schwachstellen ziehen.
cav: Lassen sich Begriffe wie „Abnutzungsvorrat“ oder „Abnutzungsreserve“ überhaupt auf den Feldbus übertragen?
Richter: Natürlich, aber was bedeuten diese Begriffe überhaupt? Sie machen doch eine Aussage darüber, wie lange eine Maschine oder ein bestimmtes Bauteil noch voll funktionsfähig ist. Wenn ich weiß, dass meine Pumpe eben gerade noch funktioniert oder sehr wahrscheinlich in den nächsten drei Tagen ausfallen wird, werde ich alles daran setzen, die Schwachstellen zu finden, um eine reibungslose Produktion zu gewährleisten. Diese Begriffe lassen sich also sehr wohl auf den Feldbus übertragen. Als Erstes aber müssen wir das Netzwerk als Verschleißteil begreifen und einordnen. Nehmen wir kurz ein Beispiel: Die Normpegel (Spannungsdifferenzsignal) eines Profibus-Sendebausteins beträgt in der Regel 5 V. Der Empfänger eines Telegramms ist bei einer Spannungsdifferenz von 1,2 V noch in der Lage, die Nachricht zu deuten. Der Störabstand oder die Abnutzungsreserve, wenn Sie es so wollen, ist also mit 3,8 V eigentlich riesig. Das Problem besteht aber darin, dass sich niemand für den momentanen Ist-Zustand interessiert und somit den noch möglichen Abnutzungsvorrat wissen will. Nicht selten kommt es vor, dass Feldbus-Netze von Anfang an gar keinen so hohen Spannungspegel bieten, wie sie sollten. Oft werden hier, unbewusst oder auch unwissend, Installationsrichtlinien nicht eingehalten oder bereits in der Planung nicht berücksichtigt. Es ist doch paradox: Jede Einzelkomponente eines Feldbussystems wird vor dem Einbau in das Gesamtsystem vom jeweiligen Hersteller auf Herz und Nieren geprüft. Nach dem Einbau in die Anlage – mit mehreren hundert Metern Leitungen, einer Vielzahl von Steckern und Klemmstellen – begnügen sich Anlagenerrichter und Anlagenbetreiber oft mit der Aussage: „Es geht doch …“. Dass die Anlage vielleicht nur mit einem Signalpegel von 2 V läuft oder auch mit zusätzlichen kapazitiven und induktiven Problemen zu kämpfen hat und somit von Anfang an hart an der Grenze arbeitet, interessiert keinen.
cav: Moderne Feldgeräte besitzen heute umfangreiche Selbstdiagnosefunktionen. Erkennen solche Feldgeräte nicht auch einen Pegel-abfall im Feldbusnetz?
Richter: Das ist eine gute Frage, zeigt aber genau, wo der Denkfehler liegt. Feldgeräte haben in der Tat umfangreiche Selbstdiagnosefunktionen. In Bezug auf die Busqualität können sie aber lediglich prüfen, ob sie ein Eingangssignal erhalten oder nicht. Über die Qualität des Eingangssignals oder gar ob dessen Pegel langsam absinkt, können sie aber keinerlei Aussagen machen. Somit sind sie für die vorbeugende Instandhaltung des Busses völlig ungeeignet, weil sie nicht vorhersagen können, wie lange der Bus noch funktionieren wird. Auch ein Diagnoserepeater kann das übrigens nicht leisten.
Und noch etwas: Was bringt es schon, wenn ein Feldgerät seinen Zustand haargenau kennt, ihn aber nicht melden kann, weil eine Störung auf dem Bus vorliegt? Wir müssen endlich anfangen auch Leitungen und Stecker als Geräte zu sehen, die man entsprechend warten muss. Denn gerade das Übertragungsmedium sollte nicht die Schwachstelle im System sein.
cav: Gibt es dann überhaupt Möglichkeiten und Tools, mit denen die Abnutzungsreserve für einen Feldbus ermittelt werden kann?
Richter: Die gibt es. Wir haben seit einiger Zeit Profibus-Test-Tools im Programm, mit denen man den aktuellen physikalischen und logischen Zustand eines Profibus-Netzes ermitteln und auf Fehlerpotenziale schließen kann. Mindestens so wichtig wie das Bereitstellen solcher Geräte ist aber, dass sich das Denken bei den Anwendern ändert. Unter Verantwortlichen für die Instandhaltungsplanung galt bislang der Slogan „never change a running system“. Das war aus Erfahrung auch berechtigt, denn da hat man oft erlebt, dass ein System verbessert werden sollte und anschließend ging gar nichts mehr. Aber warum war das so? Weil auf gut Glück verändert wurde. Man kannte ja den wirklichen Zustand des Busses gar nicht. Da ist auch klar, dass das „Verbessern“ nicht funktionieren kann. Wir müssen grundsätzlich vermeidbare Probleme erkennen und somit den Ausfällen entgegenwirken.
Genau da setzt zum Beispiel unser Profibus-Tester Profview-XL an. Er ermittelt im laufenden Betrieb einer Anlage, d. h. unter vollen Produktionsbedingungen, die physikalische Übertragungsqualität (Bewertung von Differenzspannung, Flankensteilheit und Oberwellenanteile) eines jeden gesendeten Daten-Bits pro Teilnehmeradresse im Netzwerk. Bewertungsgrundlage für die Übertragungsqualität ist somit die Signalform. Wir errechnen dann für jeden Teilnehmer einen sogenannten Qualitätswert, der direkt proportional zur Übertragungsqualität ist und in Form eines Balkendiagramms angezeigt wird. Mit diesen Werten kann der Anlagenbetreiber zum einen voraussagen, wie lange seine Anlage noch zuverlässig läuft, zum anderen kann er aber auch sehen, an welchen Stellen des Netzes er eingreifen muss. Ein zusätzliches Feature ist die Ermittlung der tatsächlichen Topologie eines Netzwerkes, denn die stimmt ja oft mit der geplanten nicht mehr überein.
cav: Viele Ihrer Feldbuserfahrungen haben Sie in der Automatisierungsindustrie gesammelt. Lassen sich diese Erfahrungen einfach auf die Prozessindustrie übertragen?
Richter: Die Automatisierungsindustrie ist ja bereits vor Jahren auf den Profibus DP umgestiegen, daher konnten wir bislang hauptsächlich in diesem Bereich Erfahrungen sammeln. Die Prozessindustrie braucht erfahrungsgemäß immer etwas länger, da hier bei Anlagenlaufzeiten nicht nur von 5-10 Jahren sondern von 10-20 Jahren gesprochen wird. Nach und nach halten jetzt mit dem Generationswechsel der Profibus DP und PA Einzug in diesen Industriezweig. Grundsätzlich muss man den Profibus PA hinsichtlich der möglichen Problemfelder aber etwas anders betrachten, da dieser Bus langsamer ist und man auch mit anderen Strukturen zu tun hat. Es gibt auch hier klare Installationsrichtlinien zu Leitungslängen und Anzahl der Slaves, die angeschlossen werden dürfen. Daneben machen aber auch so trivial erscheinende Dinge wie der Gesamtstrom im System oder die Spannung am letzten Teilnehmer eine Aussage über die Qualität des Busses. Das zu kontrollieren ist in den Richtlinien leider nicht festgelegt, obwohl solche Kontrollen einen wesentlichen Beitrag zur Verfügbarkeit der gesamten Anlage leisten würde. An dieser Stelle kann die Prozessindustrie meines Erachtens wesentlich aus den Fehlern der Automatisierungsindustrie lernen, denn dass der Bus läuft, ist keine Aussage über die Stabilität und langfristige Störsicherheit.
cav: Haben Sie bereits Erfahrung mit der Qualitätskontrolle beim Profibus PA?
Richter: Ja, die ersten Erfahrungen haben wir bereits. Bei der Wacker Chemie AG beispielsweise setzen wir unseren Profibus-PA-Logic-Analyzer ein. Der Triggerausgang des PA-Scope lässt mittels eines herkömmlichen Speicheroszilloskops die qualitative Bewertung der physikalischen Übertragungsverhältnisse zu. Um diese Bilder verstehen zu können, braucht es schon ein gewisses Know-how. Da sich der Profibus PA in der Prozessindustrie aber weiter verbreiten wird, macht es mittelfristig sicher Sinn, ein ähnliches Gerät wie den Profibus-Tester auch für diesen Bereich zu entwickeln. Wir hatten beispielsweise schon Anfragen von BASF, die sich für Tools zur Wartung und Instandhaltung ihrer Anlagen interessieren und rechnen damit, dass weitere von anderen Unternehmen kommen werden. Dann ist es natürlich sinnvoll, auch über Ex-sichere Messgeräte nachzudenken. Derzeit analysieren wir Telegramme aus dem Ex-Bereich noch von außen über einen transparenten Ex-i-Wandler. Aber schon jetzt setzen wir unsere Geräte in der Prozessindustrie ein, schon allein deshalb, weil in der Regel immer da, wo ein Profibus PA ist, auch ein Profibus DP ist und auch in Zukunft sein wird.
cav: Was wünschen Sie dem Feldbus für die Zukunft?
Richter: Ich wünsche ihm ähnliche Richtlinien, wie wir sie aus der Mechanik kennen. Es wäre wünschenswert, dass Normen wie die DIN 31051 „Grundlagen der Instandhaltung“ auch bei Feldbussen Beachtung finden, denn sie bieten der Elektroinstandhaltung und den Produktionsbetrieben eine Hilfestellung, Konsequenzen für die künftige Nutzung des Systems zu ziehen. Eine VDI/VDE-Richtlinie mit dem Titel „Zuverlässiger Betrieb und Wartung von Feldbussystemen“ wird derzeit durch den Fachausschuss GMA 615 auf den Weg gebracht. Die Vorlage für die Fachgremien ist bereits fertiggestellt und ich hoffe, dass demnächst ein Papier zur Orientierung für die Anwender und Nutzer umfangreicher Automatisierungssysteme und der damit verbundenen Netzwerke zur Verfügung steht. Auf jeden Fall wünsche ich mir aber die Erkenntnis, dass ein Bus-System im Prinzip genauso gewartet werden muss wie z. B. eine Pumpe. Einer muss es aber auch tun.
Halle 6, Stand 145
cav 474
„Wir müssen anfangen zu begreifen, dass ein Feldbus genauso regelmäßig gewartet werden muss wie beispielsweise eine Pumpe.“

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