Die Wanddicke von Rohren nimmt durch ihre innere Betriebsbeanspruchung stetig ab. Wann müssen sie gewartet werden? Wie hoch ist die Restlebensdauer? Für einen Chemieanlagenbetreiber haben Experten von TÜV Süd Chemie Service diese Fragen in nur eineinhalb Stunden beantwortet – ohne Komponenten ausbauen zu müssen.
Autoren Alexander Lieber Leiter Werkstofftechnik, TÜV Süd Chemie Service Jan Hinrichs Gruppenleiter ZfP, TÜV Süd Chemie Service
Für den sicheren Produktionsablauf der Chemieanlage stehen an diesem Tag vier Rohrkompensatoren aus einer Chrom-Nickel-Stahllegierung im Fokus. Diese sind bei laufenden Arbeitsprozessen einem Druck von 50 bar ausgesetzt und unterliegen einem alters- und betriebsbedingten Verschleiß. Ihre Wände verdünnen sich allmählich und müssen regelmäßig geprüft werden, um die Betriebs- und Anlagensicherheit nicht zu gefährden. Viele herkömmliche Prüfmethoden erfordern jedoch einen Stillstand der Anlage sowie den Ausbau der Komponenten. Um den damit verbundenen Produktionsausfall zu vermeiden, beauftragte der Betreiber der Chemieanlage TÜV-Experten mit einer zerstörungsfreien Prüfung mittels digitaler Radiografie.
Ursprünglich in der Medizin entwickelt, basiert die Radiografie auf den gleichen Prinzipien wie das klassische Röntgenverfahren. In der industriellen Anwendung gestattet sie einen zerstörungsfreien Blick ins Innere von Rohren, Schweißnähten und Anlagenkomponenten. Die Methode ist zudem anwendbar bei beschichteten, ausgekleideten, lackierten und isolierten Bauteilen. Aufgrund der unterschiedlichen Absorption während des Strahlendurchgangs werden Inhomogenitäten, Risse und Einschlüsse erkennbar und lassen sich quantifizieren. Im Kontext von Instandhaltungsprüfungen, Turnarounds und Lebensdauerprognosen kann diese Prüfme-thode Betriebskosten senken. Denn aufgrund ihrer hohen Genauigkeit lassen sich Instandhaltungspläne präziser terminieren und somit effizienter gestalten.
Neben der Anwendung in der betrieblichen Instandhaltung eignet sich die digitale Radiografie auch für die Ursachenanalyse bei Ausfällen und für die Designoptimierung. Ein Faktor ihrer Effektivität liegt dabei in der verbesserten Bildanalyse. Die elektronische Datenerfassung gestattet es, Bilder gezielt nachzubearbeiten, u. a. unter Einsatz ausgewählter Filter. Hierdurch kann die Qualität der Daten und damit der möglichen Befunde weiter gesteigert werden. Zudem verringert sich die Notwendigkeit für Zweitaufnahmen, was sowohl Kosten als auch Zeit spart.
Fachliche Expertise essenziell
Um jedoch die Vorteile der digitalen Radiografie in vollem Umfang auszuschöpfen, bedarf es mitunter jahrelanger Erfahrung. Dies betrifft zum einen den Umgang mit den empfindlichen Messgeräten. Zum anderen die richtige Interpretation der Ergebnisse und das Ableiten des daraus erforderlichen Instandhaltungsbedarfs. In der Praxis soll es weder zu einem unverhältnismäßigen Instandhaltungsaufkommen noch zu unterschätzten Risiken kommen. Hier gilt es, die Auswirkungen auf die einzelne Komponente im Kontext der Anlage richtig einzuschätzen.
Im Fallbeispiel verwendeten die TÜV-Experten ein mobiles Prüflabor. Das umfasst eine Strahlenquelle mit einem Iridium-192-Isotop, einem Strahler mit Halterung, einer Scannereinheit sowie Filmplatten. Die Dampfrohrkompensatoren hatten einen Außendurchmesser von 15 cm und konnten aus einem Abstand von 60 cm bestrahlt werden. Um die Messgenauigkeit sicherzustellen, setzten die Experten einen Referenzkörper ein, der auf jedem belichteten Bild zu sehen sein muss. Die digitalen Aufnahmen wurden vor Ort in ein Standarddateiformat umgewandelt, vermessen und ausgewertet. Zudem beschrifteten die Sachverständigen im Interesse der Nachvollziehbarkeit für den Betreiber die Messpunkte in den Bilddateien.
Maximale Prüffristen bestimmen
Moderne Verfahren der digitalen Radiografie benutzen statt einem analogen Röntgenfilm digitale Speicherfolien oder Flachdetektoren. Da sie ohne Dunkelkammern und Entwicklungszeiten auskommen, ermöglichen sie einen mobilen Einsatz ohne Verbrauchsmaterialien wie Chemikalien und Entwickler. Zum einen wird so die Erstellung der radiografischen Aufnahmen schneller und preiswerter. Zum anderen beschleunigt sich damit auch der Informationsfluss nach Auswertung der Bilder: Weil die Ergebnisse digital vorliegen, können sie zeitnah anderen betrieblichen Softwareapplikationen und Schnittstellen zur Verfügung gestellt werden, darunter der Projektabwicklung, Risikoanalyse und Geschäftsplanung.
Die Restwanddicken der vier Dampfrohre lagen im Fallbeispiel zwischen 1,8 und 5,1 mm. Diese Messwerte wurden zusammen mit den Ergebnissen vorheriger Prüfungen verwendet, um die noch zulässigen Restlebensdauern und die weiteren Prüffristen zu bestimmen. Wanddicken von weniger als 2,5 mm wurden genauer untersucht. Die gesamte Prüfung konnte in eineinhalb Stunden abgeschlossen werden, wobei nur fünfzehn Minuten auf die Durchstrahlung entfielen. Für den Betreiber der Chemieanlage bildeten die Ergebnisse der Untersuchung eine wichtige Entscheidungsgrundlage zur risikobasierten Stillstands- und Instandhaltungsplanung – und auch dazu, die maximalen Prüffristen festzulegen.
Im Hinblick auf den Strahlenschutz empfehlen die Experten eine vorausschauende Planung unter Einbeziehung aller Beteiligten. Dann besteht ausreichend Zeit für etwaige vorbereitende Maßnahmen zum Strahlenschutz und zur Verständigung örtlicher Strahlungsmessstellen. Während der Prüfung kann die Strahlungsbelastung mit Dosimetern gemessen werden. Da moderne digitale Technologien eine geringere Strahlenintensität aufweisen als herkömmliche Verfahren, können dünnere und leichtere Abschirmungs- und Schutzvorrichtungen eingesetzt werden. Damit wird das Sicherheitsniveau aufrechterhalten und zugleich Kosten gespart.
Vorteile des Verfahrens
Mit der digitalen Radiografie lassen sich auch von außen unzugängliche Systeme unabhängig vom Werkstoff untersuchen. Da sie genauere Aussagen zulässt als konventionelle Verfahren, lässt sich die Instandhaltung besser planen. Das erhöht auch die Kosteneffizienz – ohne Einschränkungen bei der Betriebssicherheit. Das digitale Verfahren ermöglicht zudem die Prüfung direkt vor Ort, ohne dass der Betrieb unterbrochen werden muss.
prozesstechnik-online.de/cav0215441
Unsere Webinar-Empfehlung
Der Webcast MTP und modulare Produktion bietet eine einzigartige Gelegenheit, mehr über die aktuellen Entwicklungen bei MTP und in der modularen Produktion zu erfahren.
Chemie- und Pharmaproduktion braucht mehr Flexibilität
In der heutigen sich schnell wandelnden Welt stehen…
Teilen: