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Von stetigem Wandel geprägt

Chemieparks in Deutschland
Von stetigem Wandel geprägt

Die Chemieparklandschaft, wie wir sie in Deutschland vorfinden, ist weltweit einzigartig. Die ehemals stark diversifizierte chemische Industrie hat sich in den letzten Jahrzehnten auf wenige, global führende Geschäftsbereiche fokussiert und Infrastrukturaktivitäten und Services ausgegliedert. So sind aus den ehemaligen Chemiewerken der jeweiligen Unternehmen Chemiestandorte mit bis zu über 100 Nutzern geworden. Die Landschaft hat sich verändert und wird sich auch in Zukunft weiter verändern. Und mit ihr die Herausforderungen und Geschäftsmodelle in und um Deutschlands Chemie- und Industrieparks.

Der Autor: Benjamin Fröhling Unternehmensberater SXCON Managementberatung

Als 1952 die I.G. Farben zurück in ihre ursprünglichen Bestandteile zerlegt wurde entstanden unter anderem die Unternehmen Hoechst, BASF, Cassella, Huels, Bayer, Kalle, Wacker und Dynamit mit jeweils mehreren großen Produktionsstandorten in Deutschland. Ende der 1990er Jahre fand in der Chemieindustrie ein Umbruch statt, der letztendlich zu der Entstehung der heutigen Chemieparklandschaft in Deutschland geführt hat. Mit der Aufspaltung der Hoechst AG in spezialisierte Geschäftsbereiche und der Ausgliederung der Infrastrukturdienstleistungen in die Infraserv-Gesellschaften sind die Industrie- und Chemieparks Höchst (Frankfurt), Kalle-Albert (Wiesbaden), Gendorf (Burgkirchen) und Knapsack (Hürth) entstanden. Weitere ehemalige Standorte wie Bobingen, Gersthofen, Griesheim, Marburg, Fechenheim und Münchsmünster sind heute ebenfalls diversifizierte Chemie- oder Industrieparks.
Definition Chemiepark
Doch was genau ist eigentlich ein Chemiepark? Per Definition handelt es sich um einen geschlossenen, nach außen vor fremdem Zugriff geschützten, Industriepark, in dem unterschiedliche Chemieunternehmen forschen und produzieren. Oft bestehen zwischen diesen Unternehmen Stoffverbünde oder andere Synergien. Daneben gibt es einen Chemieparkbetreiber, der für die ordnungsgemäße Bereitstellung von Flächen, Immobilien, Infrastrukturen, der Netze sowie der Ver- und Entsorgungseinrichtungen verantwortlich ist. Darüber hinaus erbringen Dienstleistungsgesellschaften unterschiedlichste Services für Produzenten und Betreiber. Im Idealfall gibt es eine neutrale Instanz, die das Zusammenspiel der unterschiedlichen Parteien regelt und den Chemiepark nach außen vertritt. Da die heutigen Chemieparks aber meistens historisch gewachsen sind, ist eine klare Trennung der Rollen selten und oft sind mehrere Funktionen in einer Gesellschaft gebündelt. Nicht immer ist der Fokus der Chemieparks rein chemieorientiert, weshalb oft auch vom Industriepark gesprochen wird.
Chemieparklandschaft heute
Die heutige Struktur der Chemie- und Industrieparks in Deutschland ist heterogen und es gibt unterschiedlichste Ausprägungen. Wesentliche Unterscheidungskriterien sind die Größe, das Chemieparkmodell, die Eigentümerstruktur und das Betreibermodell. Der Größe nach lassen sich Chemie- und Industrieparks in drei Kategorien einteilen. Die großen Chemie- und Industrieparks verfügen über Flächen von oft mehreren Hundert Hektar. Zu den großen Parks gehören u.a. der Chemiepark Leuna, der P-D Chemiepark Bitterfeld, der Chempark, der Chemiepark Marl oder der Industriepark Höchst. Die kleinen Chemie- und Industrieparks wie Chemiepark Köln-Merkenich, Industriepark Griesheim oder Industriepark Werk Bobingen, sind meist weniger als 150 ha groß. Dazwischen rangieren mittelgroße Chemieparks wie der Chemiepark Knapsack oder das Industrie Center Obernburg (vgl. Tabelle).
Insbesondere kleine Chemieparks erreichen aufgrund ihrer geringen Größe schnell eine kritische Masse und drohen zu zerfallen, wenn ein Unternehmen in der Krise ist. Entscheidend allein ist aber nicht die Fläche des Chemieparks. Ausschlaggebend für die Stabilität ist vielmehr die Auslastung der nutzbaren Flächen. Auch in großen Chemieparks führen Unterauslastungen zu groß dimensionierter Infrastrukturen zu hohen Kosten, die von allen Beteiligten getragen werden müssen.
Unterschiedliche Modelle
Unabhängig von der Größe der Parks, gibt es unterschiedliche Chemieparkmodelle. Das Chemieparkmodell beschreibt, wie der Chemiepark organisiert ist und in welchem Verhältnis die unterschiedlichen Industrieparknutzer wie Betreiber, Produktionsunternehmen und Dienstleister zueinander stehen. Im Folgenden werden drei gängige Modelle vorgestellt.
Das am wenigsten differenzierte Modell ist der Single-User-Standort. Er entspricht dem klassischen Chemiewerk, d. h. nur ein einziges Unternehmen produziert am Standort und ist somit Eigentümer aller Assets wie Produktionsanlagen, Flächen und Infrastruktur (z. B. BASF Ludwigshafen, Südchemie-Standorte, viele Evonik-, und Solvay- und Dow-Standorte). In der Regel gibt es in diesem Modell keine eigenen Betreiber- oder Standortgesellschaften.
Weiter ausdifferenziert ist der Major-User-Standort. Zwar sind hier noch der überwiegende Teil aller Assets in der Hand der Eigentümergesellschaft, aber es gibt bereits vereinzelt andere Unternehmen, die am Standort produzieren. Weil der überwiegende Teil der produktionsbegleitenden Services und Infrastrukturdienstleistungen nicht ausgegliedert ist, müssen diese Leistungen vom Eigentümer auch für Dritte am Standort erbracht werden. Dies ist nicht selten mit Komplikationen für die empfangende Gesellschaft verbunden, da der Standortbetreiber nicht auf die Erbringung von Industriedienstleistungen ausgerichtet ist und dies nicht im Fokus seiner Interessen steht. Beispiele für Major-User-Standorte sind der Industriepark Walsrode (Dow), der Chemiepark Marl (Evonik) oder BASF Schwarzheide.
Am weitesten ausdifferenziert ist der Multi-User-Standort. Er wird nicht von einem Unternehmen dominiert, unterschiedliche Produktionsunternehmen am Standort sorgen für eine gleichmäßige Kräfteverteilung. Die Betreibergesellschaft und verschiedenste Dienstleister sorgen für ein ausgeglichenes Serviceangebot und kümmern sich um Infrastruktur und Flächen. Der Industriepark Höchst oder die Chemieparks Knapsack und Leuna zählen zu den Multi-User-Standorten.
Aufgrund des in der Regel sehr ungleichen Kräfteverhältnisses ist das Major-User-Modell im Vergleich zu den anderen beiden Modellen sicher das ungünstigste für alle Beteiligten. Die dominierende Partei kann in der Regel alle Entscheidungen alleine und in ihrem Interesse treffen. Auf der anderen Seite müssen bestimmte Dienstleistungen auch für die angesiedelten Unternehmen erbracht werden, obwohl dies nicht im Fokus und Interesse der ausführenden Gesellschaft ist.
Eigentümerstrukturen
Ein drittes Unterscheidungsmerkmal ist die Eigentümerstruktur des Chemieparks. Die Eigentümer der Flächen und Infrastrukturen eines Chemieparks können die produzierenden Unternehmen selbst, externe Investoren oder Kommunen sein. Entsprechend der Eigentümerstruktur ist die Investitionsbereitschaft gemäß der vorliegenden Interessen und Möglichkeiten unterschiedlich ausgeprägt. So steigt die Investitionsbereitschaft einer Kommune in notwendige Infrastrukturen, wenn dadurch der Verkauf der Flächen ermöglicht wird. Die Investitionsbereitschaft privater Investoren kann unterschiedlich gelagert sein und orientiert sich in der Regel an der Rendite bzw. an den verknüpften Renditeerwartungen, sofern durch die Investition die langfristige Auslastung der verpachteten Flächen verbessert werden kann. Ist kurzfristig nicht mit einer gleichbleibenden oder steigenden Auslastung des Chemieparks zu rechnen, kann sich dies durch mangelnde Investitionsbereitschaft auch zum Nachteil der ansässigen Unternehmen entwickeln. Wichtig ist daher ein Modell, das offen ist für externe Finanzierungsmöglichkeiten und die Interessen aller ansässigen Unternehmen.
Die Eigentümerstruktur ist häufig mit dem Chemieparkmodell verknüpft. Ein heterogener Multi-User-Standort bietet die besten Möglichkeiten für externe Investoren. In der Praxis ist der Anteil der Chemieparks mit externer Eigentümerstruktur, privatem Investor oder Kommune, gering und oft nur dort zu beobachten, wo sich Major-User komplett zurückgezogen hat.
Betreibermodelle
Das Betreiber- und Dienstleistungsmodell spiegelt die Verteilung der maßgeblichen Rollen in einem Chemiepark wider und ist somit ein weiteres wesentliches Unterscheidungskriterium. In einem Chemiepark gibt es fünf unterschiedliche Rollen mit jeweils unterschiedlich gelagerten Zielen und Interessen. Die verschiedenen Rollen stehen in einer starken Wechselwirkung zu einander. Je besser diese Rollen auf unterschiedliche und jeweils im Eigeninteresse agierende Unternehmen verteilt sind, desto besser ist das Gleichgewichtsgefüge des Industrieparks.
In den Chemieparks sind die Rollen häufig jedoch nicht streng getrennt, so dass Interessen überlagert werden und das Gleichgewicht gestört sein kann. Häufig sind ein oder mehrere Standortnutzer gleichzeitig die Standorteigentümer. Außerdem werden die Rolle des Verwalters, des Betreibers und des Dienstleisters oft in einer Servicegesellschaft gebündelt. Letzteres kann negative Auswirkungen auf die Wahlfreiheit der Industriedienstleistungen, z. B. durch die Definition von Pflichtleistungen, und somit auf die Attraktivität des Standortes für die Standortnutzer haben.
Zukünftige Herausforderungen
Die Herausforderungen der Chemie- und Industrieparks sind vielfältig und resultieren auch aus der spezifischen Situation des Standortes. Vereinfacht lässt sich sagen, dass ein Chemiepark gut austariert sein muss, damit alle wirkenden Kräfte im Gleichgewicht sind. Eine gute Auslastung kann dabei Webfehler im Konstrukt überspielen. Das Gleichgewicht auszutarieren ist eine Aufgabe mit sich ständig verändernden Rahmenbedingungen in einem System mit vielen kleinen Stellhebeln und vielfältigen Abhängigkeiten, in dem jede Veränderung einen großen Reigen an Auswirkungen mit sich ziehen kann.
Die internen Herausforderungen lassen sich mit einem vorgegebenen Set an Werkzeugen bearbeiten. Es müssen zwingende Voraussetzungen geschaffen werden, die das ideale Gleichgewicht im Chemiepark ermöglichen. Die Rollen und Verantwortlichkeiten müssen klar definiert sein. Dazu gehören zum Beispiel klare Spielregeln und Vertragswerks sowie Transparenz im Umgang mit Entscheidungen. Chemieparkkonferenzen, die ein Mitspracherecht suggerieren, wenn dies in der Praxis nicht der Fall ist, führen genauso zu Unzufriedenheit wie, Monopol- und Pflichtleistungen oder intransparente Incentivierungs- oder Abrechnungsmodelle in Bezug auf Leer- oder Remanenzkosten. Eine klare Ausrichtung und Zukunftsperspektive ist Grundvoraussetzung, um die Investitionsbereitschaft aller ansässigen Unternehmen zu fördern. Unklare Modelle, Auszäunung von Flächen oder Investitionsstau können zur Verunsicherung, Abwanderung und einem Domino-Effekt führen, der das gesamte Konstrukt zusammenfallen lässt.
Die äußeren Rahmenbedingungen für die Chemieparks verändern sich, da die Chemieindustrie sich weiter verändert. Die überwiegende Mehrzahl von Neuinvestitionen in große Chemieanlagen findet nicht mehr in Deutschland statt, sondern verlagert sich z. B. nach Asien oder Südamerika. Darüber hinaus sind viele Chemieparks von Anlagenstilllegungen oder Abwanderungen betroffen. Gleichzeitig wird die Chemie in Deutschland sich in den kommenden Jahrzehnten immer weiter spezialisieren bzw. flexibilisieren müssen. Dies führt weg von großen hin zu kleinen, flexiblen Anlagen. Darüber hinaus gibt es zwangsläufig einen langfristigen Trend zur „solar“ basierten Chemie. Das heißt, die Rohstoffe für Endprodukte der Chemie sind nicht mehr erdölbasiert, sondern sie werden aus nachwachsenden Rohstoffen gewonnen. Dies führt unter anderem – analog zur Energieerzeugung – zu einer Dezentralisierung der Chemieproduktion.
Die Veränderung der Rahmenbedingungen verlangt auch eine Veränderung in der Betrachtung des eigenen Chemieparkmodells. Insbesondere in kleinen Chemieparks sind die Auswirkungen z. B. von Abwanderungen besonders spürbar. Sie müssen die Flexibilität herstellen, die es benötigt, sich für die Zukunft neu aufzustellen. Beispiele belegen, dass diejenigen Chemie- und Industrieparks, die sich eine klare Ausrichtung geben haben, erfolgreich neue Unternehmen ansiedeln können. Das Angebot an Industrieflächen ist begrenzt und einen Bedarf wird es immer geben. Eine der größten Herausforderung wird es sein, den „Kümmerer“ zu finden, der von seiner Perspektive her eine neutrale Rolle einnehmen
Fazit
Die ideale Ausprägung eines Chemieparks findet man in der Praxis nicht. Auch wenn man in der Theorie anhand der beschriebenen vier Differenzierungsmerkmale sagen kann, dass bestimmte Kombinationen besonders gut funktionieren oder bestimmte Kombinationen auszuschließen sind. In der Realität ist oft ein oder sind mehrere Kriterien aus historischen Gründen fixiert, so dass die Freiheitsgrade begrenzt sind. Somit hat jeder Chemiepark sein eigenes Portfolio an Herausforderungen, das sich aus der jeweiligen Kombination der Merkmale ergibt. Es ist nur zu empfehlen, sich dieser Kombination und den damit verbundenen Herausforderungen bewusst zu werden, um die notwendigen Schritte und Maßnahmen ergreifen zu können, damit der Chemiepark in eine stabile Zukunft geführt werden kann. Größtes Hindernis dabei ist oft das Fehlen der neutralen Instanz, des „Kümmerers“, der die Interessen aller Rollen und Nutzer im Sinne des Chemieparks als Ganzes austariert und den Chemiepark in die richtige Richtung leitet. So vielfältig die Welt der Chemie- und Industrieparks in Deutschland noch ist, so wird in den kommenden Jahrzehnten eine Konsolidierung stattfinden. Dabei stehen die Chemieparks weniger – wie sie selber lange geglaubt haben – in einem Wettbewerb zueinander, sondern jeder für sich selbst im Wettbewerb gegen die Herausforderungen von heute und morgen
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