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Standortregeln für die Anlagensicherheit

Im Chemiepark Marl arbeiten interdisziplinäre Teams am Update der IT 801
Standortregeln für die Anlagensicherheit

Der Chemiepark Marl ist der weltweit größte Standort von Evonik. Daneben arbeiten dort weitere Unternehmen Seite an Seite. Rund 100 teils in komplexer Weise integrierte Produktionsanlagen auf 6 km2 Fläche, 1200 km Rohrleitungen auf 30 km Rohrbrücken, 100 km Schienen- sowie 55 km Straßennetz und ein Output von zusammen etwa 4,4 Mio. t/a – diese Eckdaten geben einen Hinweis darauf, welche Rolle hier gemeinsame Standortregeln für die Anlagensicherheit spielen.

Zurzeit arbeitet ein Team aus Ingenieuren der Abteilung Technische Anlagensicherheit (TAS) des Chemieparkbetreibers Evonik Technology & Infrastructure GmbH und der TÜV Nord Infrachem GmbH (TNIC) an einem Update der bisherigen standorteigenen Regelung zur Anlagensicherheit, genannt IT 801. Dieses bereits etwas in die Jahre gekommene Kompendium, bislang eine Sammlung allgemeiner sicherheitstechnischer Grundlagen und Umsetzungsempfehlungen, hatte zuletzt in Gestalt verschiedener unternehmensspezifischer Vorgaben Konkurrenz bekommen. Das altgediente Regelwerk erfreut sich jedoch bei allen im Chemiepark Marl ansässigen Gesellschaften nach wie vor großer Beliebtheit. Ein darin enthaltenes vereinfachtes Schema für die Analyse von Prozessgefahren ist unter Bezeichnungen wie „IT 801-Methode“ sogar vielen Betreibern geläufiger als Paag-Verfahren oder Hazop. Dass es zudem die Anerkennung von für den Betrieb der „Störfallanlagen“ maßgeblichen Akteuren auf Behördenseite genießt und auch teilweise als Maßstab für den Stand der Sicherheitstechnik in Deutschland gegenüber ausländischen Mutterkonzernen angeführt worden war, bewog das Standortgremium Kote (Koordinierung Technik) Mitte 2017 schließlich doch zu einer Novellierung unter Federführung der größten und langjährig in Marl bestehenden Anlagensicherheitsorganisationen TAS und TNIC. Dabei war den Auftragnehmern rasch klar, dass es diesmal um mehr gehen sollte als bloß den Stand der Technik abzubilden.

Besonderheiten in Chemieparks

Im Gegensatz zu „idealtypischen“ Produktionsstandorten sind in Chemieparks zahlreiche Schnittstellen anzutreffen, die eine Bewertung der Anlagensicherheit oder auch das Festlegen geeigneter Schutzmaßnahmen deutlich erschweren. So sind Konstellationen möglich, bei denen etwa eine Rohrleitung mit toxischen oder entzündbaren Stoffen von einer Rohrbrücke aus zu einem oder mehreren Abnehmern über das Grundstück eines Dritten hinweg geführt wird. Dabei kann es leicht zu Unklarheit darüber kommen, wer an welcher Stelle für die Gefährdungsbeurteilung, Prüfungen sowie die Instandhaltung an dieser Rohrleitung verantwortlich ist. In ungünstigen Fällen sind drei oder mehr Parteien involviert, z. B. ein Infrastrukturbetreiber und verschiedene Gesellschaften, die entweder das Produkt abnehmen oder deren Anlagen und Beschäftigte ganz ohne verfahrenstechnischen Zusammenhang von Gefahren durch das Produkt betroffen sein können. Gerade letzteren ist u. U. überhaupt nicht klar, dass für sie eine Gefährdung besteht – oder sie gar eine Pflicht zur Mitwirkung trifft.

Ein weiteres Beispiel ist die einseitige Festlegung einer Ex-Zone, die in eine Verkehrsfläche oder auch in das Gelände eines anderen Betriebs ohne selbst verursachte explosionsgefährdete Bereiche hineinragt und für den dadurch plötzlich die Vermeidung von Zündquellen zum Thema wird.

Die einschlägigen Rechtsverordnungen und technischen Regelwerke helfen hier kaum weiter bzw. erweisen sich als viel zu unkonkret, weil bei deren Entstehung weder anlagensicherheitstechnische noch -organisatorische Wechselwirkungen im Fokus standen. Genau diese Schnittstellen machen aber einen Chemiepark aus. So gelten § 13 BetrSichV und § 15 GefStoffV nur für den Fremdfirmeneinsatz, und die Störfallverordnung fordert einen entsprechenden Informationsaustausch zwischen Betriebsbereichen nur dann, wenn von „Domino-Effekten“ auszugehen ist (vgl. § 6 (2) i. V. m. § 15 StörfallV). Allerdings interessieren sich Aufsichtsbehörden wie auch andere Stakeholder (z. B. Versicherungen) zunehmend für eben solche wenig oder nicht geregelte Schnittstellen. Die Regelungslücke in Bezug auf das Nebeneinander verschiedener Produktionsanlagen bzw. Betriebsbereiche ist also beträchtlich und der Handlungsdruck mitunter erheblich.

Upgrade für die Standortregeln

Vor diesem Hintergrund erklärt sich nun das Projektziel, aktuelle und dazu für den Chemiepark Marl spezifische Fragen der Anlagensicherheit aufzugreifen und die bisherige Regelung zu einer modernen sowie für die Betriebsverantwortlichen umso wertvolleren „Standortregel Anlagensicherheit“ (StRAS) weiterzuentwickeln. Insbesondere die Schnittstellen von Produktionsbetrieben untereinander wie auch mit den Ver- und Entsorgungsbetrieben sollen in diesem Zuge näher betrachtet, Potenziale zur gemeinsamen ebenso wie individuellen Risikominderung herausgestellt und Verantwortlichkeiten für den sicheren Betrieb der Anlagen näher beschrieben werden. Eine prominente Stellung nehmen dabei Rohrleitungsnetze und andere produktführende Leitungen außerhalb der Anlagen (RadA-Leitungen) ein, und natürlich geht es an vielen Stellen darum, den Austausch wesentlicher Informationen zwischen den Betreibern sich womöglich gegenseitig beeinflussender Anlagen zu fördern. Doch neben diesen Kernanliegen der beiden Dienstleister TAS und TNIC sollen ebenso jene Fragen Beachtung finden, die zusätzlich von Betreibern sowie Sicherheitsexperten der Kundenunternehmen an das Team herangetragen wurden und werden. Somit galt es nach dem Startschuss durch das Standortgremium Kote zunächst, ein passendes Format zu finden, um die vorrangigen Themen zu identifizieren und auf dieser Grundlage quasi ein Lastenheft zu erstellen.

Interviews mit Anlagenbetreibern

Um dabei möglichst keine berechtigten Interessen zu vernachlässigen, wurden über den Weg der Kote alle Betreiber von Chemieanlagen am Standort zur Mitarbeit aufgerufen, wobei im ersten Schritt eine Reihe offen gestalteter Interviews über die Erwartungen, aber ebenso etwaige Befürchtungen Aufschluss geben sollten. Im Lauf der folgenden Wochen fand man sich so mit Vertretern von sechs Gesellschaften jeweils in informeller Runde zusammen, sammelte Themengebiete, konkrete Fragen sowie Anregungen und hielt als Ergebnis eine Schnittmenge aus einigen Dutzend Aspekten fest, die weder durch allgemein zugängliche Regelwerke noch durch Konzernregularien hinlänglich abgedeckt erschienen und die hohen bis mittleren Regelungsbedarf im Sinne der Anlagensicherheit erkennen ließen. Der von den beteiligten Gesellschaften gewünschte Konkretisierungsgrad erstreckte sich dabei von abstrakten Festlegungen, um weitreichende Freiheiten zu erhalten, bis hin zu sehr konkreten Vorgaben, die vergleichbar mit früheren Werknormen klare Umsetzungsvarianten beschreiben.

Das frisch entfachte Interesse an der Regelung IT 801 bzw. nun StRAS übertrug sich sogar spontan auf andere Standorte der in Marl ansässigen Unternehmen, die sich entweder bereits auf  Teile der alten Regel gestützt oder in der Zwischenzeit ganz ähnlichen Bedarf erkannt hatten wie die Marler Kollegen.

Feinabstimmung in Gruppen

Mit dem so entstandenen abgestimmten Lastenheft startete das StRAS-Team anschließend Mitte 2018 in eine Gruppenarbeitsphase, die sich in unterschiedlich besetzten Gruppen – jeweils geleitet von TAS/TNIC – mit den Themenclustern RadA-Leitungen/Werknetze, elektrische Energieversorgung, Kooperation der „Sicherheitsgewerke“ (i. W. Prüforganisationen, Werkfeuerwehr, zentrale Arbeitssicherheit und Prozesssicherheitsexperten der Standortgesellschaften) sowie betriebliches Sicherheitsmanagement intensiv beschäftigen sollten. Nach Abschluss der Arbeitsgruppen soll aus den Ergebnissen eine „Standortregel Anlagensicherheit StRAS“ geformt werden, die für alle Interessengruppen, u. a. Betreiber, Ver- und Entsorger, Errichter, Instandhalter, sonstige Dienstleister und Behörden, einen Sicherheitsmaßstab definiert, an dem sich das Handeln aller Beteiligter sowohl innerhalb der Anlagen als auch an den Schnittstellen ausrichtet. Insbesondere mit den für die Schnittstellen vereinbarten Regelungen wird daraus gegenüber dem bestehenden allgemeinen technischen Regelwerk für die Chemieparkgesellschaften ein echter, spürbarer Mehrwert geschaffen.

Evonik Technology & Infrastructure GmbH, Marl

TÜV NORD InfraChem GmbH & Co. KG, Marl


Autoren: Dr. Pascal Pöschko

Technische Anlagensicherheit,

Evonik Technology & Infrastructure

Christoph Thust

Leiter Technische Anlagensicherheit

Evonik Technology & Infrastructure

Matthias Czeranka

Senior Safety Expert,

TÜV Nord Infrachem

Dr. Ingo Sander

Geschäftsführer,

TÜV Nord Infrachem

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