„Künstliche Intelligenz (KI) wird in Zukunft mehr und mehr den autonomen Betrieb von Anlagen in der Prozessindustrie ermöglichen. Aber der Mensch wird dabei keinesfalls von der KI verdrängt. Beide werden vielmehr Seite an Seite miteinander arbeiten, denn der Mensch muss immer verstehen, was die KI macht“, stellte Dr. Mehmet Mercangöz, ABB Reader in Autonomous Industrial Systems am Imperial College London, zu Beginn seines Impulsvortrags in der Highlight Session KI am Mittwoch der ACHEMA klar. Vor allem generative KI wie ChatGPT werde die Entwicklung enorm beschleunigen, ist sich der Experte sicher: Im Gegensatz zu modellbasierten Algorithmen oder zu Reinforced Learning, einer Methode des maschinellen Lernens, könne generative KI nämlich auch mit unvorhergesehenen Ereignissen umgehen.
Mercangöz sieht großes Potenzial für die KI in der Prozessindustrie vor allem dort, wo es um das Verständnis und die Analyse von Abläufen geht sowie um Entscheidungsfindungen, also vor allem im operativen Bereich. „Dies ist in vielen Unternehmen in der Branche in Zukunft der große Flaschenhals angesichts des Fachkräftemangels – und genau hier wird generative KI zum Game Changer.“
Dass KI in der Prozessindustrie kein Zukunftsthema mehr ist, sondern längst angekommen ist, bestätigte Fabien Mangeant, Chief Data and AI Officer bei Air Liquide. Der französischer Hersteller technischer Gase hat bereits gut 500 Use Cases für KI identifiziert. An zwei Standorten in der Normandie und in Südafrika hilft KI zum Beispiel, die operative Effizienz durch den Einsatz im Energiemanagement zu verbessern. In der Supply Chain hat Air Liquide mithilfe von KI die Kosten um 10 % verringert. Und auch neue Services für Kunden ermöglicht KI; so zum Beispiel Predictive Maintanance von Beatmungsgeräten. „Starten Sie Ihre KI-Reise mit einfachen Anwendungen und im Labor“, rief Mangeant den Besuchern der Highlight Session zu. „Komplexe Aufgaben und KI-Lösungen für den operativen Betrieb von Anlagen können dann im zweiten Schritt folgen.“
Auch Martin Valdes de Leon, Manager Solutions Architecture bei Amazon Web Services (AWS) appellierte an die Besucher: „Legen Sie mit simplen Aufgaben los und versuchen Sie nicht, alle Unwägbarkeiten im Vorfeld abzuklären. Sonst sehen Sie vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr – und das behindert Sie nur.“
Dr. Jürgen Spitzer, Leiter Strategie und Technology bei Siemens Prozess Automatisierung, sieht auch Benefits durch KI für die Prozessindustrie im Engineering-Bereich: „Wir sehen zum Beispiel, dass sich Anlagen zur Wasserstoff-Erzeugung mit KI wesentlich schneller skalieren lassen.“
Die Teilnehmer der Highlight Session hatten allerdings nicht durchgängig die rosarote KI-Brille auf. „Wir haben noch etliche Herausforderungen im Umgang mit KI zu lösen“, sagte Mercangöz. Diese reichen von Safety-Themen über die Frage hinsichtlich Kosten und Vorteilen bis hin zur hohen Komplexität von prozesstechnischen Anlagen. „Autonome Anlagen bringen außerdem nicht automatisch Vorteile mit sich. Man muss sich schon überlegen, was sich lohnt und was eben nicht. Man schafft sich ja in aller Regel auch keinen Roboter an, der nur einmal im Jahr zum Einsatz kommt.“ Es brauche überdies entsprechende Lösungen für kleine und mittlere Unternehmen, sodass diese ebenfalls von der KI profitieren können.
Air-Liquide-Manager Mangeant sieht weitere Herausforderungen für sein Unternehmen wie zum Beispiel Data Governance, die Entwicklung der richtigen Fähigkeiten bei den rund 500 digitalen Experten im Unternehmen und auch der Aufbau eines KI-Ökosystems mit Partnern: „Vertrauenswürdige KI muss für uns dabei im Vordergrund stehen.“ Sabine Koll