Die chemisch-pharmazeutische Industrie hat im zweiten Quartal des Jahres sehr deutlich die Konsequenzen des Krieges in der Ukraine gespürt: astronomische Energiepreise, stark gestiegene Rohstoffkosten und anhaltende Lieferengpässe. In allen Sparten ist die Produktion eingebrochen. Durch hohe Erzeugerpreise stiegen die Umsätze zwar noch einmal leicht. Bei vielen Unternehmen gingen die Erlöse aber zurück.
Gestiegene Kosten können nicht weitergegeben werden
Es fiel den Betrieben immer schwerer, die hohen Energie- und Rohstoffkosten an ihre Kunden weiterzugeben. Dazu kommt die Unsicherheit, ob im Winter eine Rationierung des Gases nötig sein wird. Die Vorbereitungen für eine Mangellage laufen auf Hochtouren. Die Ängste vor einer Rezession sind groß, die Geschäftserwartungen für die kommenden Monate im Keller.
Wettbewerbsfähigkeit in Gefahr
VCI-Präsident Christian Kullmann sagt zur konjunkturellen Lage der Branche: „Wir müssen uns im wahrsten Sinne des Wortes warm anziehen, um diesen Winter und auch das kommende Jahr zu überstehen. Die immensen Herausforderungen bringen die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen in ernste Gefahr und damit auch die Zukunft des Industriestandort Deutschlands. Die Drosselung der Produktion ist ein erster Schritt. Wenn bestimmte Prozesse ganz stillgelegt werden müssen, laufen sie möglicherweise nie wieder an.“
Stimmung bricht ein
Die pessimistische Grundstimmung spiegelt sich auch im aktuellen Ifo-Index für die deutsche Chemie- und Pharmaindustrie wider: Demnach hat sich das Geschäftsklima in der Branche im August drastisch verschlechtert. Es fiel auf minus 33 Punkte, nach minus 14 Punkten im Juli. Besonders stark sackte die Bewertung der aktuellen Geschäftslage ab. Erstmals seit September 2020 bewerteten sie die Firmen negativ, mit minus 8 Punkten, nach plus 22 im Juli. Ein noch dramatischeres Bild ergab sich bei den Geschäftserwartungen für die kommenden Monate. Sie rutschten auf minus 55 Punkte, nach minus 45 Punkten im Juli. Das ist der schlechteste Wert seit 1991.
Schwierige Rahmenbedingungen
„Von der Energiekrise ist Deutschland stärker betroffen als andere europäische Länder und das hat natürlich auch Auswirkungen auf die chemische und pharmazeutische Industrie hierzulande“, sagt Christiane Kellermann, Senior-Referentin, Bereich Volkswirtschaft beim VCI, Verband der Chemischen Industrie e. V.
Die hohen Preise für Gas und Strom werden das Wachstum der Branche auch in den nächsten Wochen und Monaten bremsen. Daran ändern auch die moderaten Preisrückgänge bei Öl nichts.
Bei den Lieferketten gab es eine leichte Entspannung; Logistikkapazitäten bleiben aber eng bemessen. Großer Risikofaktor ist nach wie vor die No-Covid-Politik Chinas, die jederzeit zu neuen Lieferkettenproblemen führen kann.
Unsichere Gasversorgung
Die Angst vor einer Gasmangellage ist auch in der chemisch-pharmazeutischen Industrie mit den Händen zu greifen. „Diese Angst wuchs erneut nachdem Russland seine Gaslieferungen über Nordstream 1 komplett eingestellt hat“, betont Kellermann. „Für eine leichte Entspannung sorgen die zurzeit hohen Speicherstände. Außerdem gehen wir davon aus, dass Versorgungsengpässe zeitlich und regional begrenzt sind.“
Blickt man auf die Nachfrage, sieht es auch hier düster aus: Sie schwächt sich ab. Gleichzeitig schmelzen die Auftragspolster wie Schnee in der Sonne.
Prognose wird nach unten korrigiert
Angesichts der dramatischen Entwicklungen an den Gas- und Strommärkten korrigiert der VCI seine Jahresprognose nach unten und rechnet mit einem Rückgang der Produktion in der Branche insgesamt in Höhe von 5,5 %. Die Chemieproduktion (ohne Pharma) sinkt sogar um 8,5 %.
Die aktuellen Herausforderungen zwangen die Chemie- und Pharmaunternehmen die Produktion kräftig zu drosseln. Sie verzeichnete im zweiten Quartal ein deutliches Minus von 6,4 % gegenüber dem Vorquartal. Die Kapazitätsauslastung der Branche lag mit 81,4 % weiterhin unter der Normalauslastung.
Erzeugerpreise und Umsatz
Die Preise für Chemieprodukte verteuerten sich erneut mit einem Plus von fast 8 % gegenüber dem Vorquartal und 24 % gegenüber dem Vorjahr.
Das Minus in der Produktion hemmte die Umsatzentwicklung. Durch die stark gestiegenen Erzeugerpreise erhöhten sich die Umsätze von April bis Juni zwar um 3,4 % auf insgesamt 64,9 Mrd. Euro. Das Plus fiel aber deutlich kleiner aus als im Vorquartal.
Die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist auch im zweiten Quartal des Jahres konstant geblieben. Mehr als 473.000 Menschen arbeiten aktuell in der Chemie-und Pharmabranche.
Dekarbonisierung der Branche
Inflation, steigende Zinsen und eine drohende Rezession – das alles bremst die Investitionslaune der chemischen- und pharmazeutischen Industrie. Auf der anderen Seite steht das große Ziel, die deutsche Grundstoffchemie bis 2050 zu dekarbonisieren, also klimaneutral zu gestalten. Und diese Transformation wird Milliarden kosten
Wird die aktuell krisenhafte Entwicklung den Transformationsprozess beschleunigen oder bremsen? „Fest steht, dass der Transformationsprozess läuft“, unterstreicht Kellermann. „Es gibt Signale, dass Gasknappheit und die hohen Energie- und Rohstoffpreise die Dekarbonisierung der Branche vorantreiben. Auf der anderen Seite stehen krisenbedingt weniger Mittel für Investitionen zur Verfügung.“
Verband der Chemischen Industrie e. V. (VCI), Frankfurt/M.
Lukas Lehmann
Redakteur V.i.S.d.P.