Herr Leidinger, ein Sprichwort heißt: „Never change a running system!“ Trifft das auch auf Kläranlagen zu?
Die Überwachung von Pumpen in industriellen Prozessen ist weit mehr als eine reine Schutzmaßnahme für das Pumpenaggregat. Neben der präventiven Wartung und...
Leidinger: Leider überhaupt nicht, das ist sogar kontraproduktiv. Ich vergleiche die Situation in einer Kläranlage gerne mit unserer Fußball-Nationalmannschaft. Zum Zeitpunkt der WM 2014 hatte Deutschland ein starkes Team. Die Spieler setzten die Taktik des Trainers gut um, waren in der Balleroberung perfekt und wir hatten die richtigen Spieler auf der richtigen Position. Vier Jahre später scheiterten die gleichen Spieler in der Vorrunde. Wie konnte das geschehen? Die Antwort ist einfach: Das Umfeld hatte sich erheblich verändert, die gegnerischen Mannschaften haben sich weiterentwickelt und es wurde der Zeitpunkt verpasst, neue Spieler in das Team zu integrieren.
Übertragen auf die Kläranlage bedeutet das jetzt exakt was?
Leidinger: Wenn ich immer am gleichen Maschinenpark festhalte und diesen nicht an die aktuelle Situation anpasse, komme ich als Kläranlagenbetreiber irgendwann in Schwierigkeiten. Das heißt, ich muss als Kläranlagenbetreiber dann tief in die Tasche greifen, um meinen Maschinenpark wieder den neuesten Standards anzupassen. Das sollte tunlichst vermieden werden.
Der Ersatz eines alten Kompressors durch einen neuen Verdichter schlägt mit Energievorteilen von bis zu 30 % zu Buche. Die Erfahrung zeigt, dass man allerdings mit solchen Zahlen vorsichtig sein muss. Warum?
Leidinger: Die Frage ist immer, welchen Bezugspunkt ich zur Definition der Energieersparnis heranziehe. Betrachte ich das komplette System oder nur den Verdichter. Die reine Zahl kann dabei sehr trügerisch sein. Nehmen wir als Beispiel ein energiesparendes Auto, das statt 15 l Benzin nur noch 7 l Benzin auf 100 km verbraucht. Wenn ich dieses Auto aber 364 Tage im Jahr in der Garage stehen lasse und nur 100 km fahre, habe ich gerade einmal 8 l Benzin im Jahr gespart. Diese Investition ist nicht wirklich clever.
So ähnlich ist es in der Kläranlage. Um Energie sparen zu können, muss eine ganzheitliche Systembetrachtung erfolgen, die mir eine klare Aussage liefert, in welchem Volumenstrombereich – Minimum und Maximum spielen hier eine ganz wichtige Rolle – meine Kläranlage am häufigsten arbeitet. Das dümmste, was ein Betreiber machen kann, ist sich für den Schwachlastbereich, der in einer Kläranlage lediglich zu 2 % im Jahr gefahren wird, die tollste energetisch optimierte Maschine zu kaufen. Das bringt gar nichts.
Das wird doch sicher nicht so häufig vorkommen.
Leidinger: Ganz im Gegenteil. Ich habe diese Situation schon oft in Kläranlagen erlebt. Der Anlagenbetreiber hat sich eine energieeffiziente Maschine gekauft, die aber so gut wie nie läuft. Das große, 30 bis 40 Jahre alte Drehkolbengebläse daneben brummt vor sich hin und treibt den Energieverbrauch in die Höhe. Warum sollte man diese Maschine auch ersetzen, sie läuft ja. Und genau das ist der Fehler.
O.k., aber reicht es dann nicht, den alten Maschinenpark grundsätzlich zu ersetzen? Man kann dadurch doch bis zu 30 % sparen.
Leidinger: Das ist schon richtig. Wenn man die alten Drehkolbengebläse durch moderne Geräte wie unseren Hybrid oder ein Turbogebläse ersetzt, sollte man auf jeden Fall diesen Einsparbereich erzielen. Aber es geht wesentlich mehr. Mit einer ganzheitlichen Systembetrachtung, wie wir es mit unserem modularen Konzept Aerwater anbieten, haben wir Einsparpotenziale von bis zu 55 % realisiert, was exakt den Vorgaben der neuen EU-Klimaziele entspricht.
Was ist Aerwater?
Leidinger: Kläranlagen bieten zahlreiche Stellschrauben, um Energie einzusparen. Der aus energetischer Sicht interessanteste Bereich innerhalb einer Kläranlage ist die biologische Reinigungsstufe. Hier werden rund 60 bis 80 % der Energie verbraucht. Aerwater ermöglicht einen 360°-Blick auf den Belüftungsprozess und bietet einen ganzheitlichen Lösungsansatz mit aufeinander abgestimmten, modularen Leistungsbausteinen aus Hardware, Software und Service.
Sie haben gesagt, Aerwater wäre modular. Aus welchen Modulen besteht Aerwater?
Leidinger: Aerwater ist aus acht Einzelbausteinen aufgebaut. Dazu gehören Aeraudit, Performance3, Maschinenraumoptimierung, Finanzierung, Realisierung, Aersmart, Aerprogress und Service 4.0. Diese Bausteine lassen sich frei kombinieren, je nach Wunsch des Anlagenbetreibers und Aufgabenstellung.
Wenn Sie auf eine Kläranlage kommen, womit beginnen Sie?
Leidinger: Der erste und wichtigste Baustein ist Aeraudit. Häufig wissen die Kläranlagenbetreiber überhaupt nicht, mit welchen Lastgängen ihre Gebläsestationen laufen. Das Aerzen-Serviceteam rückt dann mit einem mobilen Messkoffer an und zeichnet alle relevanten Daten und Lastgänge über einen längeren Zeitraum auf. Zusätzlich messen wir die Klemmenleistung hinter dem Frequenzumrichter. So lässt sich die Energie messen, die der Kunde letztendlich bezahlt. Die aufgezeichneten Daten werden sorgfältig ausgewertet und jede Schwach- und Spitzenlast bewertet. Anschließend stellen wir die Daten für den Anlagenbetreiber detailliert und transparent dar und schlagen eine entsprechende Performance3-Lösung vor.
Damit wären wir bei dem zweiten Baustein von Aerwater.
Leidinger: Ja. Wir haben bei Aerzen mit dem klassischen Drehkolbengebläse Delta Blower, dem Drehkolbenverdichter Delta Hybrid und dem luftgelagerten Turbogebläse Aerzen Turbo drei verschiedene Technologien im Angebot, die unterschiedliche Lastbereiche abdecken. Zur optimalen Auslegung auf die jeweiligen Bedingungen vor Ort können diese drei Technologien kombiniert werden. Die Betonung liegt dabei auf können, denn in den wenigsten Fällen werden alle drei Technologien eingesetzt. Mit der Performance3-Kalkulation berechnen wir für den Anlagenbetreiber seine optimale Lösung. Diese kann allerdings variieren, je nachdem, welchen Fokus der Kunde im Auge hat – das können beispielsweise Redundanz, Energieeffizienz, Betriebssicherheit oder einfach der Preis sein.
Was hat es mit dem Modul Maschinenraumoptimierung auf sich?
Leidinger: Wenn man sich die Maschinenräume in Kläranlagen anschaut, ist das oft ein wahres Elend. 20 bis 30 % aller Anlagen in Deutschland haben keine oder eine sehr schlechte Maschinenraumbelüftung. Und das hat Konsequenzen: Eine Temperaturerhöhung von 10 °C im Maschinenraum bewirkt einen Energieverlust von rund 3 %. Durch die Ausdehnung der Luft bei höherer Temperatur wird pro Umdrehung weniger Sauerstoff in das Belebungsbecken gefördert. Die Folge ist ein Leistungsverlust. Wenn man sich überlegt, dass manche Kompressoren mit Temperaturen von mehr als 60 °C unter der Schallhaube betrieben werden, kann man sich vorstellen, wieviel Energie hier verschwendet wird.
Welche Rolle spielt die Aufstellung der einzelnen Aggregate im Maschinenraum?
Leidinger: Das ist ein kritischer Punkt. Häufig werden Kompressoren falsch aufgestellt, sodass der eine Kompressor die warme Abluft eines anderen Aggregats ansaugt. Dies führt aus den gleichen Gründen wie zuvor zu Leistungsverlust. Idealerweise werden die Maschinen so aufgestellt, dass sie möglichst kalte Luft ansaugen. Das erhöht den Wirkungsgrad und trägt positiv zur Energiebilanz bei.
Gibt es weitere wichtige Punkte, die im Maschinenraum beachtet werden müssen?
Leidinger: Ein Punkt, der bei der Maschinenraumoptimierung noch zu nennen wäre, ist natürlich noch die Wärmerückgewinnung. Die Kompressoren strahlen erhebliche Wärme ab, die anderweitig genutzt werden kann. Aber auch die Prozessluft heizt sich durch die Verdichtung enorm auf. Diese Wärme kann durch einen Wärmetauscher zurückgewonnen werden. Die Investition in so eine Wärmerückgewinnung kann sich nach 4 bis 6 Jahren amortisieren.
Mit Aersmart bietet Aerzen eine Verbundsteuerung zur Belüftung des Belebungsbeckens an. Was macht diese Steuerung?
Leidinger: Der Sauerstoffsensor aus dem Belüftungsbecken gibt ein Signal an die übergeordnete Steuerung, die dieses an die Aersmart weitergibt. Sie überprüft, welches der installierten Aggregate für den aktuell benötigten Sauerstoffbedarf die beste Lösung ist. Ist man gerade im Schwachlastbetrieb, wird der Blower aktiviert. Steigt der Sauerstoffbedarf im Becken, wechselt die Aersmart auf ein anderes Aggregat, zum Beispiel den Turbo. Im Hochlastbetrieb präferiert die Steuerung dann z. B. den Hybrid. Es sind allerdings auch Maschinenkombinationen möglich, wenn diese energieeffizienter sind als der Betrieb eines Einzelaggregats.
Wie wird die Aersmart installiert?
Leidinger: Normalerweise sitzt die Aersmart zwischen der Mastersteuerung und den Verdichtern. Bei kleineren Anlagen kann die Aersmart aber auch die Funktion der Mastersteuerung übernehmen. Es besteht auch die Möglichkeit, nur den Sauerstoffbedarf über die Aersmart zu regeln und alle anderen Funktionen von einer Mastersteuerung erledigen zu lassen. Sie sehen, Aersmart ist hier sehr vielseitig und kann variabel eingesetzt werden. Auch bezüglich der Signalübertragung – analog, Webserver, Profibus oder Profinet sind denkbar.
Worum handelt es sich bei dem Modul Aerprogress?
Leidinger: Aerprogress ist ein Modul, das von Aerzen Digital Systems stammt. In erster Linie geht es darum, die Daten der eingebauten Verdichter visuell darzustellen. Darüber hinaus ist Aerprogress in der Lage, Optimierungsmaßnahmen im Bereich der Wartung und Instandhaltung durchzuführen. Dazu wertet die Software beispielsweise Schwingungssensoren aus, um den Zustand der Lager zu prüfen. Aerprogress funktioniert hierbei wie eine Ampel. Auf diese Weise kann man einen kontrollierten Stillstand dann herbeiführen, wenn die Maschine es benötigt. Auch die Effizienz des Systems lässt sich sehr gut darstellen. Außerdem verschafft einem Aerprogress einen perfekten Überblick über die Lebenszykluskosten der Anlage. Auch Tendenzen der Anlage lassen sich mit Aerprogress gut erkennen. Und letztendlich ermöglich das Modul ein automatisiertes Ersatzteilmanagement und damit sozusagen Service 4.0.
Herr Leidinger, um eine verbesserte Energieeffizienz in der Kläranlage zu erreichen, gibt es also viele Stellschrauben. Wie sollte ein Anlagenbetreiber die energetische Optimierung seiner Kläranlage idealerweise angehen?
Leidinger: Der beste Weg ist in diesem Falle eine Systembetrachtung im Team, zu denen das beauftragte Ingenieurbüro und alle am Projekt beteiligten Partner gehören. Die gesamte Belüftungsanlage eines Belebungsbeckens besteht in der Regel aus den Belüftungsplatten, den Rohrleitungen, dem Rührwerk, den Verdichtern und dem Maschinenraum. Nur wenn diese fünf Kernkomponenten optimal zusammenspielen, kann ein Anlagenbetreiber das beste Ergebnis erreichen. Daher ist das A und O aus meiner Sicht eine gute Beratung. Um zum Beispiel Fußball zurückzukehren: Jeder Spieler muss den Laufweg des anderen verstehen. Man muss sich den Ball blind zuspielen können, aber der andere muss ihn auch annehmen können. Dann macht das ganze Spaß und man erzielt das beste Ergebnis für den Anlagenbetreiber.
Aerzener Maschinenfabrik GmbH, Aerzen
Das Interview führte für Sie: Dr. Bernd Rademacher
Redakteur