Bereits in den 1970er-Jahren gab es ernsthafte Bemühungen, das Konzept der künstlichen Fotosynthese umzusetzen. Doch trotz vieler kleiner Fortschritte: Den großen Durchbruch, mit dem sich das Verfahren wirtschaftlich und auf breiter Front einsetzen ließe, gab es bisher nicht. Dies könnte sich nun durch Rheticus ändern. Im Jahr 2021 soll eine erste Versuchsanlage am Evonik-Standort im nordrhein-westfälischen Marl in Betrieb gehen, die Chemikalien wie Butanol oder Hexanol erzeugt – beides Ausgangsstoffe beispielsweise für Spezialkunststoffe oder Nahrungsergänzungsmittel.
Zwei Verfahren verknüpft
Die beiden Verfahren, die bei Rheticus miteinander verknüpft werden, sind schon lange bekannt – und doch ganz neu. So wurde die Elektrolyse bereits Ende des 19. Jahrhunderts genutzt, um Natron- und Kalilauge sowie Chlor industriell herzustellen. Mit Rheticus bereitet Siemens aber erstmals einem CO2-Elektrolyseur den Weg in die industrielle Anwendung. Bei dem Gerät wird am Pluspol, einer mit Iridiumoxid beschichteten Titananode, Wasser zu Sauerstoff (O2) oxidiert. Der Minuspol, eine Silbergasdiffusionskathode, wird von CO2 umströmt. Ein Teil des Gases wird dort durch elektrischen Strom zu Kohlenstoffmonoxid (CO) mit geringen Beimengungen von Wasserstoff (H2) reduziert. Mit zusätzlichem elektrolytisch erzeugtem Wasserstoff ist das Ergebnis ein Synthesegas, ein Gemisch aus CO2, CO und H2.
Für die anschließende bakterielle Fermentation muss das Synthesegas möglichst sauerstofffrei sein. Denn bei Rheticus kommen zwei unterschiedliche Bakterienstämme zum Einsatz, die durch Sauerstoff gehemmt oder sogar abgetötet werden. Biowissenschaftler nennen diese Clostridien deshalb obligat anaerob. In der industriellen Biotechnologie sind sie wahre Exoten. Die Entscheidung der Experten von der Creavis, der strategischen Forschungseinheit von Evonik, für diese Bakterien ist kein Zufall. Denn anders als die gewöhnlich genutzten Mikroorganismen wie Escherichia coli bringen sie für Rheticus einen unschätzbaren Vorteil mit: Die beiden eingesetzten Clostridien-Arten produzieren von Natur aus die beiden Alkohole Hexanol und Butanol.
Für die Pilotanlage ist ein Fermenter vorgesehen, in dem beide Clostridien-Stämme in einer sogenannten Co-Kultur wachsen. Im Bioreaktor wird das einströmende Synthesegas zunächst von Clostridium autoethanogenum zu Acetat und Ethanol verstoffwechselt. Diese beiden Moleküle dienen dann dem Bakterium Clostridium kluyveri als Ausgangsstoff, um Butyrat und Hexanoat zu formen. In einem letzten Schritt werden diese beiden Verbindungen abermals von C. autoethanogenum zu Butanol und Hexanol reduziert.
Flexibel durch modularen Aufbau
Eine Besonderheit ist der modulare Aufbau der Rheticus-Plattform. Elektrolyseur und Fermenter sind als jeweils eigenständige Einheiten konzipiert. Dadurch lässt sich nicht nur die Größe von Anlagen beliebig skalieren und an lokale Gegebenheiten anpassen. Durch die Entwicklung weiterer Module entsteht auch eine bisher ungekannte Flexibilität hinsichtlich der Rohstoffquellen und der hergestellten Produkte. Im Zusammenspiel mit C. autoethanogenum könnte die ebenfalls obligat anaerobe Bakterienart Pelobacter propionicus beispielsweise CO2 und Ethanol zu Acetat und Propionat verstoffwechseln. Ölhaltige Hefen wären in der Lage, die von C. autoethanogenum gebildeten Stoffe zu Lipiden umzusetzen. Dies sind nur zwei Beispiele, die das Potenzial der künstlichen Fotosynthese verdeutlichen – zahlreiche Chemikalien oder Treibstoffe ließen sich umweltfreundlich und profitabel produzieren.
Chemie folgt der Energieform
Rund 20 Mitarbeiter von Evonik und Siemens werden in den kommenden zwei Jahren hart daran arbeiten, Rheticus aus dem Labor in eine technische Versuchsanlage zu überführen. Im nächsten Schritt könnte eine Anlage mit einer Produktionskapazität von bis zu 20 000 t pro Jahr entstehen. Evonik und Siemens haben bereits in der ersten Förderphase zwei Jahre lang erfolgreich die Grundlagen für die technische Machbarkeit der künstlichen Fotosynthese aus Bioreaktor und Elektrolyseur entwickelt. Anfang 2020 nimmt die Versuchsanlage ihren Testbetrieb auf. In den nächsten Monaten geht es darum, Elektrolyseur und Bioreaktor zusammenzuschließen. Zusätzlich entsteht eine Einheit zur Aufarbeitung der Flüssigkeit aus dem Bioreaktor, um die reinen Chemikalien zu erhalten. Noch sind einige Fragen offen: Wie müssen die Schnittstellen zwischen Elektrolyseur und Fermenter und der Aufarbeitung gestaltet werden? Werden sich anaerobe Clostridien auch im industriellen Maßstab in einer voll integrierten Anlage bewähren? Gelingt es mit den Rheticus-Modulen, einen voll kontinuierlichen Prozess zu gestalten?
Wertstoffe aus CO2 in Sicht
Erste Antworten auf diese Fragen können seit Frühjahr 2019 erarbeitet werden, denn da hat Evonik das Synthese-Modul in Betrieb genommen: Kernstück ist ein acht Meter hoher Bioreaktor aus Edelstahl mit einem Fassungsvermögen von 2000 l. Mikroorganismen verrichten darin kontinuierlich ihre Arbeit. Wasserstoff und Kohlenmonoxid bilden die Hauptnahrung der Bakterien.
Auch bei Siemens machen die Arbeiten große Fortschritte. Dort wurde ein vollständig automatisierter CO2-Elektrolyseur entwickelt, der im Sommer 2019 in einen Container integriert wurde. Der weltweit erste CO2-Elektrolyseur besteht aus zehn Zellen mit einer Gesamtelektrodenfläche von 3000 cm2.
Nach erfolgreichem Abschluss von Rheticus II werden Evonik und Siemens eine einzigartige Plattformtechnologie zur Verfügung haben, die energie- und werthaltige Stoffe wie Spezialchemikalien oder künstliche Treibstoffe aus CO2 herstellt.
Evonik Industries AG, Essen
Siemens AG, Erlangen
Rechenexempel: Aus dem Labor in den Prozess
Eine Anlage, die innerhalb eines Jahres 10 000 t Hexanol und Butanol herstellen kann, würde rund 25,5 MW Leistung aufnehmen, gleichzeitig würden jährlich rund 25 000 t CO2 gebraucht. Wie sich das Scale-up bewerkstelligen ließe, haben die Forscher ebenfalls errechnet. Um die 25 000 t CO2 umsetzen zu können, müsste der Elektrolyseur um den Faktor 270 000 wachsen – beispielsweise indem die Elektrodenfläche von 10 cm2 auf 1 m2 vergrößert wird und 270 der Zellen parallel betrieben werden. Unrealistisch ist das nicht: Beides wurde mit anderen Elektrolyseuren schon umgesetzt. Im Labormaßstab wurden Zellen bereits erfolgreich um einen Faktor 30 auf 300 cm² große Zellen skaliert und in Rheticus ein Zellstapel aus zehn dieser Zellen mit entsprechender Automatisierungstechnologie aufgebaut.
Für die Fermentation nutzen die Wissenschaftler im Labor zwei Ein-Liter-Bioreaktoren. Um 10 000 t Alkohole pro Jahr herzustellen, müsste die Produktionsrate um den Faktor 21,6 Millionen angehoben werden. Zum Beispiel indem die Zelldichte in den Fermentern um den Faktor 30 und das Volumen der Behälter auf 700 000 l erhöht wird. Auch dies sind Werte, wie sie für andere industriell genutzte biotechnologische Prozesse schon erreicht wurden.