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Mittlerweile hat sich vielfach bestätigt, dass eine Testsimulation mit digitalen Zwillingen Engineeringprozesse nicht nur erheblich schneller macht, sondern auch zur Qualitätsverbesserung und Kostensenkung beiträgt. Die virtuellen Komponenten, Baugruppen und Anlagen bilden dabei ihre realen Vorbilder nahezu 1:1 ab, von den Parametern über die Schnittstellen bis hin zum Steuerungsverhalten. Zweierlei ist dafür nötig: ein ausgereiftes Hardware-in-the-Loop-Echtzeitsimulationssystem sowie die Komponenten und Baugruppen der jeweiligen chemischen Anlage in digitaler Form. Basisbausteine sind die einzelnen Komponenten, die dann – analog zur Realität – die Baugruppen bilden, aus denen sich wiederum die Anlage zusammensetzt. Allerdings können diese Komponenten über verschiedene Anlagenbauer und Unternehmen hinweg die gleichen sein. Es ist davon auszugehen, dass der einzelne Hersteller dieselben Komponenten in verschiedenen Anlagenkonfigurationen einbaut und dass mehrere Unternehmen identische Bauteile und Bauteilgruppen nutzen. Pumpen und komplexere Baugruppen können dieselben sein. Warum also sollte man einen bereits vorhandenen digitalen Zwilling eines Bauteils nicht branchenweit nutzen – anstatt es immer wieder neu zu erfinden? Es spricht sehr viel dafür, im Chemieanlagen- und -komponentenbau eine gemeinsame Plattform für digitale Zwillinge zu verwenden.
Eine Plattform für alle
Zahlreiche Maschinen- und Anlagenbauer setzen bereits auf leistungsfähige Simulationsplattformen anstatt auf geschlossene Lösungen. Virtuelle Komponenten für derartige Plattformen, aus denen komplexe Testszenarien aufgebaut werden, können von Dienstleistern entwickelt bzw. direkt von Komponentenherstellern bezogen werden. Die Wiederverwendung der virtuellen Komponenten stellt sicher, dass die reale Steuerungstechnik in Echtzeit und deterministisch am digitalen Zwilling getestet und in Betrieb genommen werden kann. Zudem können sich die Unternehmen so auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren und alternative Lösungen durch Austausch der Komponenten ohne wesentlichen Mehraufwand analysieren. Aufgrund dieser Vorteile ist es nur folgerichtig, auch für Chemieanlagen eine Lösungsplattform aufzubauen. In diese sind das Simulationssystem, die Werkzeuge zur Erstellung digitaler Zwillinge und eine sukzessiv wachsende Bibliothek mit virtuellen Komponenten integriert. Dabei gewinnen alle Beteiligten:
- Die Anlagen- und Komponentenbauer erhalten als primäre Nutzer der Simulationsplattform deutlich mehr Anwendungsmöglichkeiten.
- Die Komponentenlieferanten steigern die Servicefreundlichkeit gegenüber ihren Kunden, und als Mitnutzer des Simulationssystems verbessern sie ihre Qualitätssicherung.
- Der Anbieter der Simulationsplattform eröffnet seinen Kunden
einen deutlichen Mehrwert gegenüber einem geschlossenen Simulationssystem.
Die folgenden fünf Beispiele zeigen die vielfältigen Wege, auf denen eine Integrationsplattform mit mitwachsender Virtuelle-Komponenten-Bibliothek die Produzenten von chemischen Anlagen, Apparaten und Komponenten unterstützt.
Schneller, kostengünstiger, innovationsfreudiger
Das erste Beispiel lässt sich mit „Vorhandenes nutzen“ überschreiben. Die virtuellen Chemieanlagen sind modular aufgebaut. Die kleinste Einheit ist die Komponente, beispielsweise ein Pumpenantriebssystem oder eine Reaktorkammer. Einmal in der Bibliothek abgelegt, lässt sie sich immer wieder neu verwenden – und das von jedem Unternehmen, das mit der Simulationsplattform arbeitet. Der Aufwand, das Bauteil zu digitalisieren, fällt nur ein einziges Mal an. Es ist zu erwarten, dass innerhalb der Nutzergemeinschaft jedes Unternehmen gelegentlich selbst liefert und gelegentlich von der Vorarbeit der anderen profitiert.
Ein Vorteil für die Planer und Betreiber größerer Anlagen ist, dass sich das wachsende Risiko reduzieren lässt. Mit steigenden Investitionsvolumen und zunehmender Anlagenkomplexität erhöht sich nicht nur das wirtschaftliche Risiko. Es wird auch immer wichtiger, die Anlagen bis ins letzte Detail technologisch zu optimieren. Das erfordert von den Lieferanten der chemischen Komponenten, Apparate und Baugruppen eine hohe Flexibilität – sie müssen schnell und innovativ auf neue technische Anforderungen reagieren und ihre Fertigung entsprechend umstellen. Vorhandene digitale Zwillinge lassen sich via Testsimulation mit relativ geringem Aufwand weiterentwickeln und für den jeweiligen Anwendungsfall individualisieren.
Nicht zu unterschätzen ist der Vorteil, dass solch eine Datenbank die Auswahl der technisch besten Lösung erleichtert, wenn ein Bauteil oder eine Bauteilgruppe ersetzt werden muss und der bisherige
Lieferant nicht mehr zur Verfügung steht. Der Anlagenbetreiber kann alle in der Datenbank vorhandenen Varianten virtuell durchspielen und die technisch beste Lösung mit relativ geringem Aufwand finden.
Zudem spart die Standardisierung auch Kosten. Zunächst wird die Zahl der in der Bibliothek verfügbaren virtuellen Komponenten und Apparate für die Chemieindustrie zwar steigen, je mehr Hersteller die Simulationsplattform nutzen. Es ist allerdings anzunehmen, dass mittelfristig ein Trend hin zur Vereinheitlichung von gleichartigen Komponenten in Gang kommt: Schließlich greift man bevorzugt auf in der Bibliothek vorhandene Komponenten zurück. Davon profitieren beide Seiten – die Komponentenhersteller und die Anlagenbauer. Denn standardisierte Bauteile sind in der Regel technologisch optimiert und kostengünstiger in der Fertigung.
Die Automatisierung von Testsimulationen ist das fünfte Beispiel. Die Digitale-Komponentenbibliothek stellt eine entscheidende Grundlage dafür dar, die Testsimulationen künftig vollautomatisiert ablaufen zu lassen. Vorab konfiguriert der Bediener mithilfe von Checklisten den Testablauf. Dann zieht das System selbstständig die entsprechenden Simulations- und Testbausteine aus der Bibliothek und führt die Rechenprozesse durch. Die Simulation läuft komplett durch, und niemand muss den Folgetest mehr manuell starten.
Selbst ist der Lieferant
In der Vergangenheit hat oft der Anbieter der Simulationssoftware für seinen Kunden die virtuellen Anlagenkomponenten erstellt. Im Maschinenbau übernehmen das mittlerweile viele Komponentenhersteller selbst. Mehr noch: Sie stellen auch selbst ihre digitalen Zwillinge in das Simulationssystem ein und nutzen so für ihre Qualitätssicherung die Prüfmöglichkeiten dieser virtuellen Welt. In der Regel fällt durch die Erstellung des digitalen Zwillings lediglich ein geringer Mehraufwand für sie an, da sie die gleichen echtzeitfähigen Verhaltensprogramme für die realen Komponenten (Firmware) benötigen. Es ist zu erwarten, dass sich diese Vorgehensweise auch im Chemieanlagenbau durchsetzt.
Suchwort: cav1019isg
Autor: Dr. Christian Daniel
Business Manager Simulation Technology,
ISG Industrielle Steuerungstechnik
Kurz und bündig: Einsatzbeispiele
Sinnvolle Einsatzszenarien für die Simulation mit digi-talen Zwillingen sind:
- Inbetriebnahmen simulieren und die reale Inbetriebnahme (IBN) bestmöglich vorbereiten
- Wartungsarbeiten simulieren, um deren Zeitaufwand zu reduzieren
- Das Bedien- und Servicepersonal am virtuellen Zwilling schulen, ohne dafür die Anlage zu blockieren
- Die Komponenten, Komponentengruppen und das
Gesamtsystem in allen Phasen der Produktentwicklung digitalen Tests unterziehen und damit sehr frühzeitig Fehler und Schwachstellen finden - Beim Retrofitting vorhandener Systeme die Konfiguration und IBN simulieren, um die Umrüstzeiten in der Produktion so gering wie möglich zu halten
- Fehler simulieren, deren Auslösung unter Echtzeitbedingungen zu gefährlich wäre oder das Equipment
beschädigen könnte
Der Einsatz virtueller Testsimulation bei der Fertigung mechatronischer Maschinen hat gezeigt, dass sich der Zeitaufwand für die reale IBN um rund 80 bis 90 % senken lässt, wenn die Inbetriebnahme der einzelnen Baugruppen und der Gesamtanlage vorab mit ihren digitalen Zwillingen simuliert wird. Entwicklungsprojekte – sowohl bei der Produktneuentwicklung als auch beim Redesign vorhandener Maschinen – benötigen 10 bis 30 % weniger Zeit, wenn man die Funktionalität der einzelnen Komponenten und ihr Zusammenspiel als Baugruppe(n) im virtuellen Raum durchspielt und optimiert, bevor Prototypen gefertigt werden.