Mehr messen, schneller messen, inline messen: Wenn Lebensmittelproduzenten über Real-Time-Qualitätssicherung nachdenken, geht es ihnen nach Einschätzung von Prof. Volker Lohweg nicht allein darum, mehr Informationen zu erhalten, sondern vor allem „um mehr Wissen und schnelleres Wissen“. Lohweg leitet das Institut für industrielle Informationstechnik (inIT) an der Technischen Hochschule Ostwestfalen-Lippe in Lemgo. Ziel des Wissenschaftlers ist eine Inline-Messtechnik, die für Cyber-Physical-Systems in der Lebensmittelproduktion sorgt. „Herzstück eines solchen Ansatzes ist die Integration datenintensiver Messtechnik in die Produktionsprozesse inklusive Kommunikation, Vernetzung und künstlicher Intelligenz aller beteiligten Systeme“, erklärt Lohweg. Das heißt: Die Kontrolle erfolgt nicht mehr stichprobenartig im Nachgang an die Produktion eines Lebensmittels, sondern unmittelbar im Prozess und in Echtzeit. Wird ein Fehler erkannt, kann das System diesen im Idealfall automatisch kompensieren, ohne dass der Anlagenbediener eingreifen muss.
Qualitätssicherung im „Closed Loop“
Neben hochauflösender Messtechnik spielen künstliche Intelligenz und Deep-Learning- Algorithmen dabei eine Rolle. Gemeinsam mit den Professoren Ulrich Müller und Björn Frahm vom Institute for Life Science Technologies (ILT.NRW) koordiniert Lohweg IT-seitig das Projekt „Teig 4.0“, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der Initiative SmartfoodtechnologyOWL gefördert wird. „Bisherige Prozesse in der Weizenteigverarbeitung sind oft handwerklich geprägt. Neben den Schwankungen von Rohstoffeigenschaften führt der Prozess selbst zu starken Unterschieden in der Produktqualität“, erläutert Müller. Geht es nach dem Willen des Projektteams, soll es künftig mittels Inline Messtechnik möglich sein, heute als Stichprobe gemessene sowie bisher nicht gemessene Eigenschaften von Weizenteigen schon während des Produktionsprozesses zu erfassen und in Echtzeit auszuwerten. Beispielsweise sollen die viskoelastischen Parameter des Teiges mithilfe von bildanalytischen Methoden und der Messung physikalischer Größen kontinuierlich bewertet werden. „Auf diesem Wege lassen sich zudem Informationen über die zeitliche und räumliche Verteilung von Teigeigenschaften gewinnen. Dabei fallen komplexe Datenmengen an, die verarbeitet werden müssen“, so Müller. Laut ihm fehlt es gegenwärtig vor allem an Sensoren, die in der Lage sind, die für eine Qualitätsüberwachung relevanten Stoff- und Prozessgrößen in hoher Frequenz inline zu erfassen und zu verarbeiten. Im Rahmen der Projekte der SmartfoodtechnologyOWL-Initiative werden deshalb diverse Messprinzipien auf Eignung überprüft, so auch Multi-Sensoren für den Einsatz in industriellen Prozessen, die unter anderem auf der Nahinfrarotspektroskopie (NIR) basieren. „Mit ihnen glauben wir,“ so Müller, „zu einer erfolgreichen Prozessoptimierung hinsichtlich chemischer und physikalischer Eigenschaften des Endproduktes beitragen zu können.“ Mit Echtzeitanalytik und der Integration von heuristischem Wissen soll sich schließlich ein digitales Abbild des realen Lebensmittels erstellen lassen, anhand dessen die Qualität, aber auch Ausbeuten vorhergesagt werden können. Um die Qualität basierend auf komplexen Datensätzen zu bestimmen und Prognosen errechnen zu können, entwickeln die Forscherteams intelligente Algorithmen, die nach Mustern und Gesetzmäßigkeiten in den Daten suchen. Die Integration derartiger Closed-Loop-Systeme steht in direkter Verbindung mit der Vision von cyberphysischen Systemen in einer vollständig vernetzten Infrastruktur – und damit ganz im Sinne einer Smart Food Factory, wie sie gegenwärtig auf dem Innovation Campus in Lemgo entsteht. Ab Ende 2022 wollen Wirtschaft und Wissenschaft hier gemeinsam zum Thema Digitalisierung in der Lebensmittelbranche forschen und entwickeln.
Messtechnische Multitalente
Das Beispiel SmartfoodtechnologyOWL zeigt: Die Aufgaben der Messtechnik wandeln sich im Zuge der Digitalisierung und Vernetzung. Die Lösungen für die Qualitätssicherung 4.0 müssen intelligent und flexibel einsetzbar sein. Unter diesen Bedingungen kann besonders die Nahinfrarotspektroskopie ihre Stärken ausspielen. Unverkennbar ist dabei das Heranrücken der Technologie an den Herstellungsprozess des Lebensmittels. Die Messköpfe können entlang der gesamten Produktionskette zum Einsatz kommen: bei der Rohstoffannahme, während der Herstellung – entweder zur automatischen Probennahme im Bypass einer Rohrleitung oder direkt im Prozessbehälter – sowie in der Endproduktkontrolle. Qualitätsabweichungen lassen sich so bereits bei ihrer Entstehung erkennen und frühzeitig korrigieren. Eine Herausforderung beim Einsatz der Technologie ist allerdings ihre Integration, denn die empfindliche Mikroelektronik ist in der Lebensmittel-, Pharma- und Chemieindustrie einem Umfeld ausgesetzt, das von Vibrationen, Temperaturschwankungen und Reinigungsprozessen geprägt ist. Messköpfe und Spektrometer werden deshalb physisch getrennt voneinander platziert. Mit dem Produkt Matrix-F bietet Bruker ein NIR-Prozessspektrometer an, mit dem berührungslos messende Sonden über Lichtleitfasern angeschlossen werden können. Es kann auch als eigenständiges System zur Methodenentwicklung im Labor eingesetzt und dann später direkt in die Prozessanwendung integriert werden. Durch den Einsatz der Glasfasertechnologie lassen sich auch mit dem Multi-NIR-Inline-System von Bühler schwer zugängliche Messpunkte ohne lange Reaktionszeiten erreichen. Das Lichtleitkabel ermöglicht in der Futtermittelherstellung beispielsweise einen Maximalabstand von 200 m. Bis zu sechs Messköpfe lassen sich pro Spektrometer anschließen.
Schrittmacher Sensorfusion
Auch bei der Integration der künstlichen Intelligenz in die Qualitätssicherung sind die Messtechnikanbieter und Systemintegratoren gefragt. Für sie gilt es, neue Dimensionen der Datenerfassung zu stemmen und Machine-Learning-Technologien im Blick zu behalten, die über die Funktionen der einzelnen Sensoren hinausgehen. Haben die Hersteller von Mess-, Steuer- und Regelungssystemen bis vor wenigen Jahren versucht, Sensoren für jede Anforderung zu entwickeln, lösen sie die immer individueller werdenden Aufgabenstellungen in der Prozessindustrie heute mittels neuer Sensor-Software-Konzepte. In diesen intelligenten Sensoren, den Smart Sensors, erkennen Branchenexperten auch in der Lebensmittelindustrie den Trend hin zu Multi-Sensorsystemen, um die zunehmende Komplexität zu beherrschen. Sie befähigen bestehende Technologien, die traditionell für Durchfluss und Füllstand eingesetzt werden, zur Messung von Stoffeigenschaften wie Dichte oder Viskosität. Getrieben wird dieser dynamisch wachsende Markt durch Digitalisierung, Miniaturisierung und Sensorfusion. Die Sensoren werden nicht nur kleiner und kompakter, sondern es werden mehrere verschiedene Sensoren auf einer Plattform integriert. Es überrascht also nicht, dass marktführende Anbieter wie Endress+Hauser seit Jahren einen strategischen Schwerpunkt auf die Prozess- und Laboranalyse setzen. Mit der Akquisition zweier US-Unternehmen hatte man sich bereits im Jahr 2012 und 2013 innovative Technologien an Bord geholt. Durch die Absorptionsspektroskopie mittels abstimmbarer Laserdioden (TDLAS) von Spectrasensors stärkte die Firmengruppe ihre Position in der Gasanalyse. Kaiser Optical Systems, ein führender Anbieter von Raman-Spektroskopie, verfügt über Fachwissen in der Analyse von Feststoffen, Flüssigkeiten und Gasen. Die Chancen stehen gut, dass sich diese beiden laserbasierten Verfahren bei der Qualitätskontrolle in der Lebensmittelindustrie fest etablieren werden. Anfang des Jahres wurde die Kompetenz der beiden Firmen in dem neu geformten Unternehmen Endress+Hauser Optical Analysis gebündelt. „Wir wollen unser Angebot für die Labor- und Prozessanalyse weiterentwickeln und ausbauen. Gemeinsam mit Endress+Hauser Liquid Analysis und dem Tochterunternehmen Analytik Jena bildet Endress+Hauser Optical Analysis ein wichtiges Element der Analysestrategie unserer Firmengruppe“, sagt Dr. Manfred Jagiella, der im Endress+Hauser Executive Board für das Analysegeschäft verantwortlich ist.
Neue Ära dank optischer Verfahren
Als Fazit lässt sich festhalten, dass es vor allem die optischen Verfahren sind, die eine neue Ära in der Qualitätssicherung einleiten sollen. Die Leistungsfähigkeit und der Spektralbereich der eingesetzten Sensoren werden immer größer und die Kombination unterschiedlicher Sensortypen vielfältiger. Dies spiegelt sich in den Hyperspectral-Imaging-Verfahren wider, einer Weiterentwicklung der NIR-Spektroskopie. Die Technologie erlaubt es, Bilddaten aus einem umfassenden elektromagnetischen Spektrum aufzunehmen – von Wellenlängen im ultravioletten Farbspektrum bis hin zum langwelligen Infrarot-Bereich. Gleichzeitig liefert sie räumliche Informationen. Dadurch wird das zerstörungsfreie Verfahren für viele Routineinspektionen in der Qualitätssicherung attraktiv. Als unverzichtbare Komponenten werden solche Systeme künftig als „Sinnesorgane“ einer durchgängig vernetzten Produktion in Echtzeit Produkt- und Prozessdaten zur Verfügung stellen und auswerten. Qualitätssicherung und Lebensmittelproduktion agieren dann nicht mehr getrennt und unabhängig voneinander, sondern werden als ganzheitlich integrierter Prozess funktionieren – und damit als Closed Loop.
Wie das in der Praxis aussieht, zeigt bereits der Sherlock Food Analyser von Insort. Dank Chemical Imaging Technology (CIT), einer proprietären Lösung, die auf der Hyperspektralsensorik basiert, ist das System in der Lage, in Echtzeit die chemische Zusammensetzung von Lebensmitteln ortsaufgelöst auszuwerten. Wichtige Daten, wie die Trockensubstanz, der Fett- und Zuckergehalt oder der Reifegrad, müssen nicht mehr aufwendig über Stichproben im Labor analysiert werden, sondern lassen sich inline und ohne Zeitverzug erfassen. Hochauflösende Farbkameras sorgen für eine Komplettierung des Informationsgehaltes, indem sie Farbdefekte identifizieren, die Form erkennen oder die Größe vermessen. All diese Informationen fließen in einen Algorithmus ein, der je nach Anwendung automatische Steuerungsprozesse in der Produktion ermöglicht. So lässt sich die Food-Analyser-Funktion beispielsweise auf jedem Sherlock- Sortiersystem zum Ausschleusen von Schadobjekten installieren.
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