Herr Prof. Krupitzer, Sie leiten seit Oktober 2020 das neue Fachgebiet Lebensmittelinformatik am Institut für Lebensmittelwissenschaften und Biotechnologie der Uni Hohenheim. Was versteht man unter Lebensmittelinformatik?
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Prof. Christian Krupitzer: Für den Begriff Lebensmittelinformatik gibt es noch keine einheitliche Definition in der Forschung. An der Uni Hohenheim war es daher zunächst meine Aufgabe, den Begriff zu definieren. Es gab zwar Anfang der 2010-er Jahre bereits eine Forschungsrichtung, die sich Food Informatics nannte. Dabei ging es aber vor allem darum, gemeinsame Standards zu finden, um die Daten in der Lebensmittellieferkette zu beschreiben. Was wir unter Lebensmittelinformatik verstehen, geht viel weiter. Wir verstehen darunter die Digitalisierung in der Lebensmittelbranche, insbesondere in der Lebensmittelverarbeitung, aber auch in anderen Bereichen der Lebensmittellieferkette wie zum Beispiel im Transport. Mithilfe von Methodiken aus dem Bereich des Internets der Dinge, der künstlichen Intelligenz und des maschinellen Lernens versuchen wir, die Verarbeitung von Lebensmitteln zu optimieren und Fehler frühzeitig zu identifizieren, um sie zu vermeiden.
Was hat die Uni Hohenheim dazu bewogen, ein eigenes Fachgebiet für Lebensmittelinformatik einzurichten?
Prof. Krupitzer: Die Notwendigkeit, die Digitalisierung in der Branche voranzutreiben. Wo das Problem liegt, hat eine Umfrage des Branchenverbands Bitkom und der Bundesvereinigung der Deutschen Ernährungsindustrie aus dem Jahr 2019 gezeigt. Danach sehen die Unternehmen die Digitalisierung zwar als Chance, aber viele Mitarbeiter haben keine Kompetenzen dafür.
Woran liegt das?
Prof. Krupitzer: In der Branche herrscht hoher Kostendruck und die Margen sind klein. IT klingt immer nach Extraaufwand, insbesondere finanziell. Die Uni Hohenheim hat dieses Problem erkannt. Wir wollen den Studierenden, die bei uns einen Bachelor- und Masterabschluss in Lebensmittelwissenschaften, Lebensmitteltechnologie oder Biotechnologie machen, eine Zusatzausbildung im Bereich der Informatik mitgeben.
Welche Kompetenzen wollen Sie den Studierenden vermitteln?
Prof. Krupitzer: Unser Fokus liegt auf der Datenanalyse. Wir bilden keine kompletten Informatiker aus, sondern konzentrieren uns auf die Kenntnisse, die für die Datenauswertung notwendig sind. Die Studierenden erwerben zum Beispiel Programmierkenntnisse und statistisch-mathematische Kenntnisse. Außerdem wollen wir den Studierenden Kompetenzen im Bereich der künstlichen Intelligenz und des maschinellen Lernens mitgeben, damit sie später im Berufsleben Trends verstehen und mit Beratungsfirmen und Anlagenbauern besser über Digitalisierungsthemen sprechen können.
Das Fachgebiet Lebensmittelinformatik beteiligt sich auch am Projekt „Artificial Intelligence and Data Science Certificate Hohenheim“, kurze Aidaho, das darauf abzielt, die Kompetenzen der Studierenden in Sachen künstliche Intelligenz zu verbessern.
Prof. Krupitzer: Richtig. Es geht dabei aber nicht nur um künstliche Intelligenz, sondern allgemein um Datenanalyse mit maschinellem Lernen, Data Science und statistischen Methoden. Das universitätsweite Aidaho-Zertifikat ist gerade angelaufen und findet großen Anklang bei den Studierenden. Im Rahmen des Zertifikats vermitteln wir in fünf Veranstaltungen Kompetenzen im Bereich Informatik. Es gibt aber auch anwendungsbezogene Projekte, bei denen die Studierenden Daten analysieren müssen, teilweise auch im Rahmen von Praktikums- oder Werkstudentenstellen in Unternehmen. Von einigen Firmen haben wir die Rückmeldung erhalten, dass es spannend wäre, solche Projekte auch als Weiterqualifizierungsmaßnahme für Mitarbeiter anzubieten. Aktuell diskutieren wir, ob sich das umsetzen lässt.
Kommen wir zu Ihrer Forschung. In einem aktuellen Projekt beschäftigen Sie sich mit der intelligenten, digitalisierten Lebensmittellieferkette. Im Fokus steht dabei die intelligente Rückverfolgbarkeit von Lebensmitteln. Worum geht es in diesem Projekt?
Prof. Krupitzer: Wir wollen eine Echtzeitanalyse vom Zustand der Lebensmittel während des Transports, während der Verarbeitung bis hin zum Supermarkt bieten. Dafür untersuchen wir verschiedene Technologien. Ein großes Thema ist die Blockchain. Hier ist für uns die Frage spannend, ob die Blockchain in einem bestimmten Kontext sinnvoll eingesetzt werden. Außerdem untersuchen wir, wie man auch während des Transports mit Sensorik arbeiten kann, denn wenn man keinen stationären Energieeinfluss hat, muss man überlegen, in welcher Frequenz Sensoren genutzt werden. Spannend ist auch die Frage, wie Daten in Echtzeit analysiert werden können.
Spielt dabei auch Edge Computing eine Rolle?
Prof. Krupitzer: Ja. In den letzten Jahren wurden sehr viele Daten in die Cloud verschoben. Das ist manchmal sinnvoll, weil in der Cloud unbeschränkte Rechenkapazitäten zur Verfügung stehen und man deshalb schnell Analysen durchführen kann. Die Edge ist der Gegensatz dazu. Man will die Daten an dem Punkt, an dem sie anfallen, analysieren. Will man zum Beispiel während des Transports eine Analyse durchführen, kann man die Daten nicht immer einfach irgendwo hinschicken. Wir wollen untersuchen, wie man energiesparende Mini-PCs beim Transport einsetzen kann. Und wir müssen auch entscheiden, wie viele Daten wir für die Analyse tatsächlich brauchen, weil auf den Geräten keine großen Datenmengen verarbeitet werden können. Das heißt, beim Edge Computing gibt es gewisse Herausforderungen, die wir im Rahmen des Projekts betrachten wollen.
Blicken wir in die Praxis. Wie intelligent ist die Lebensmittellieferkette heute schon?
Prof. Krupitzer: Leider nicht so intelligent wie sie sein könnte. Von Unternehmen hören wir, dass sie Daten sammeln und speichern, aber oft nicht nutzen, weil die Kompetenzen dafür fehlen.
Was sind die größten Herausforderungen bei der Realisierung einer intelligenten, digitalisierten Lebensmittellieferkette?
Prof. Krupitzer: Festzustellen, welche Daten notwendig sind und was man damit erreichen kann. In einem Projekt, das gerade in der Begutachtungsphase ist, wollen wir eine Status-quo-Analyse machen. Wir wollen untersuchen, welche Daten schon gesammelt werden und welche Rückschlüsse sie auf die Produktqualität zulassen.
Sie beschäftigen sich auch mit dem digitalen Lebensmittelzwilling. Bitte erklären Sie in Grundzügen, wie ein virtuelles Abbild eines Lebensmittels geschaffen wird.
Prof. Krupitzer: Es geht darum, die Daten, die verfügbar sind, zusammenzuführen. In vielen Industriezweigen existieren schon seit Jahrzehnten ERP-Systeme, in denen sämtliche Produktionsdaten erfasst werden. Es ist genau bekannt, wie das Produkt Schritt für Schritt verändert wird. Auf der Basis von historischen Daten kann dann ein digitaler Zwilling erstellt und für Simulationen genutzt werden. Bei Lebensmitteln ist das wesentlich komplexer, weil biologische, chemische und physikalische Zusammenhänge das Produkt beeinflussen. Bei der Joghurtfermentation zum Beispiel greift man nicht aktiv in den Prozess ein, um etwas zu verändern, sondern lässt den Prozess einfach laufen. Weil es bei Lebensmitteln nicht für jeden Prozessschritt Daten gibt, ist man auf Modelle angewiesen. Diese helfen dabei, aus den gesammelten Prozessdaten den Zustand des Produkts, das beim digitalen Zwilling in den Mittelpunkt gestellt werden soll, abzuleiten. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch eine Mensch-Maschinen-Schnittstelle. Diese braucht man, um die Informationen des digitalen Zwillings nutzen zu können. Meine Vision ist aber, dass die Maschine die notwendigen Eingriffe selbst ausführt. Aber davon sind wir noch weit entfernt.
Welche Vorteile bietet der digitale Lebensmittelzwilling?
Prof. Krupitzer: Man kann mit dem digitalen Zwilling Anomalien in der Produktion erkennen, die zu Anomalien in der Qualität führen. Und man kann mit dem digitalen Zwilling eines Produktes auch Simulationen oder Berechnungen für andere Produkte durchführen. Wenn man beispielsweise die Rezeptur, Prozessschritte oder die Maschinenkonfiguration anpassen will, kann man das über einen digitalen Zwilling simulieren. Außerdem kann man mithilfe des digitalen Zwillings das Mindesthaltbarkeitsdatum bestimmen und bei der Produktentwicklung den Scale-up auf die Linie beschleunigen.
Wie lange wird es noch dauern, bis digitale Abbilder von Lebensmittelprodukten in der Industrie genutzt werden, um in Echtzeit Probleme zu identifizieren?
Prof. Krupitzer: Die Unternehmen, mit denen wir sprechen, nennen einen Zeithorizont von fünf bis zehn Jahren. Fünf Jahre wird es dauern, bis wir einen digitalen Zwilling haben, der Handlungsempfehlungen geben kann, und zehn Jahre, bis die Maschinen die Handlungsempfehlungen autonom umsetzen können.
Nach einer Bitkom-Umfrage aus dem Jahr 2022 erwarten 95 % der Unternehmen, dass Störungen in den Lieferketten die Digitalisierung bremsen werden. 92 % haben diese Sorge wegen der hohen Inflationsrate, 78 % wegen steigender Energiekosten. Wird die Digitalisierung in der Lebensmittelindustrie durch die schwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ins Hintertreffen geraten?
Prof. Krupitzer: Das kann durchaus passieren. Eine Linie im laufenden Betrieb zu digitalisieren ist sehr aufwendig und mit hohen Kosten verbunden. Aber die aktuelle Situation kann auch dazu beitragen, dass Firmen erkennen, wie sinnvoll die Digitalisierung ist. Beispielsweise gibt es Forschungsarbeiten, in denen ein digitaler Zwilling einer Fabrik gestaltet wird, um herauszufinden, wo Energiesparpotenziale vorliegen. Aber es ist natürlich klar, dass ein Unternehmen keine neuen Mitarbeiter für die Datenanalyse einstellt, wenn Aufträge wegbrechen. In diesem Fall bietet es sich zum Beispiel an, mit Forschungsinstituten zusammenzuarbeiten und in Abschlussarbeiten oder Promotionen Schritte in Richtung Digitalisierung zu gehen.
Suchwort: Lebensmittelinformatik
Das Interview führte für Sie: Claudia Bär
Redakteurin