Konzepte für Industrie 4.0 wie cyberphysische Systeme, Condition Monitoring, Remote Support und der digitale Zwilling schaffen die Grundlage für Predictive Maintenance – eine Strategie, bei der die Maschinen individuell und bedarfsgerecht gewartet werden, bevor es zu Ausfällen oder Störungen kommt. Das Prinzip dahinter: Gestützt durch Machine-Learning-Algorithmen und künstliche Intelligenz hilft Predictive Maintenance dabei, Unregelmäßigkeiten zu erkennen, die über die normalen oder zu erwartenden Schwankungen hinausgehen. Sobald etwas Unplanmäßiges passiert, meldet sich die Anlage selbst, um auf Fehler aufmerksam zu machen. Im Idealfall sieht das Servicepersonal auf dem Dashboard oder mobilen Endgerät anhand einer 3-D-Darstellung, wo genau das Problem lokalisiert ist und welches Bauteil betroffen ist.
Stand das Thema ohnehin schon oben auf der Agenda vieler
Lebensmittelhersteller, hat es mit der Covid-19-Pandemie noch einmal an Dynamik gewonnen. Denn wenn die Mitarbeiter aus der Instandhaltung während eines Lockdowns die Betriebe nicht betreten können, müssen kreative Lösungen für die Wartung der Maschinen gefunden werden. Branchenexperten wie Bitkom-Hauptgeschäftsführer Dr. Bernhard Rohleder sehen die Krise hier durchaus als Chance, das Industrial Internet of Things (IIoT) voranzutreiben. Aktuell nutzen bereits vier von zehn Industrieunternehmen IoT-Plattformen, mit denen Daten von Geräten, Maschinen und Anlagen an zentraler Stelle zusammengeführt und ausgewertet werden können. Jedes dritte (32 %) plant die künftige Nutzung. Das sind die Ergebnisse einer repräsentativen Studie im Auftrag des Digitalverbands Bitkom, für die 551 Industrieunternehmen ab 100 Beschäftigten im Februar und März 2021 befragt wurden. „IoT-Plattformen legen das Fundament für digitale Mehrwertdienste. Mit ihnen werden physische Produkte um weitere Funktionen angereichert und ermöglichen beispielsweise die vorausschauende Wartung“, so Rohleder.
Mit Echtzeitdaten zur proaktiven Instandhaltung
Mit den von Rohleder angesprochenen digitalen Services sind Condition Monitoring und Predictive Maintenance gemeint. In Kombination ermöglichen sie es, den Zustand von Maschinen im laufenden Betrieb zu prüfen und die Restlebensdauer einzelner Komponenten zuverlässig zu prognostizieren – denn kommt es zu einem Ausfall, muss es schnell gehen. Bestes Beispiel dafür sind hoch automatisierte Verpackungslinien, wie sie in der Pharma- und Lebensmittelindustrie zum Einsatz kommen. Bei Leistungen von 200 und mehr Picks pro Minute ist der Totalausfall ein Worst-Case-Szenario, das es zu vermeiden gilt. Wie das in der Praxis funktioniert, zeigt der Spezialist für Prozess- und Verpackungstechnik Syntegon mit MIRA (Machine Intelligence Reporting & Analytics). Die modulare Softwarelösung für die Überwachung prozesskritischer Bauteile macht Stillstandzeiten planbar und sorgt für einen störungsfreien Produktionsbetrieb. So können beispielsweise Anomalien an Lüftern durch Temperatur- und Vibrationsanalysen bis zu sechs Wochen vor einem potenziellen kostspieligen Ausfall erkannt werden. Als eigenständiges System zur vorausschauenden Wartung arbeitet MIRA parallel zum laufenden Betrieb und greift nicht in die Maschinensteuerung ein.
Damit allein ist es aber nicht getan. Um verlässliche Vorhersagen für die proaktive Instandhaltung zu treffen, müssen riesige Datenmengen aus dem Condition Monitoring in Echtzeit übertragen, analysiert und in Verbindung mit Bestandsdaten evaluiert werden. Darüber hinaus gilt es, technische Hürden zu nehmen, beispielsweise die Maschinen- und Sensorenanbindung auf der Feldebene. Praktikabel und zuverlässig wird Predictive Maintenance deshalb erst mithilfe geeigneter Schlüsseltechnologien wie IO-Link, Multiprotokoll-Ethernet, drahtlose Signalübertragung oder Cloud Solutions. Auch die Prediction Box des Messtechnikanbieters Sick bezieht die Daten direkt von der Sensorik. Der Anwender muss dazu nur noch den Sensor in der Anlage via Smart Service Gateway (TDC-E) mit dem Cloud Service verbinden. „Mit der Prediction Box lassen sich Datenverläufe von Geräten vorhersagen und damit die Produktivität durch frühzeitiges Handeln erhöhen“, erklärt Max Dietrich, der als Product and Application Manager Smart Data Solutions bei Sick tätig ist. Auf Basis dieser intelligenten Prognosen können die Anwender sowohl den optimalen Zeitpunkt als auch den Umfang für den
Service planen.
Die digitale Brücke für Bestandsanlagen
Heutige Greenfield-Anlagen verfügen in aller Regel bereits über
eine Struktur, um den Shopfloor über entsprechende Konnektivitätslösungen mit der übergeordneten Leitebene zu verbinden. Anders bei Brownfield-Anlagen, in denen viele Sensoren noch analog über Signale von 4 bis 20 mA oder Hart-Schnittstelle kommunizieren. Hier kommt ein Konzept ins Spiel, das ein horizontales Abgreifen nicht regelungsrelevanter Daten am Feldgerät über einen zweiten Kanal erlaubt: die Brückentechnologie NOA (NAMUR Open Architecture). Der zusätzliche Kanal bietet dem Wartungspersonal den direkten Zugriff auf die Fernparametrierung und das Condition Monitoring. Ein Ansatz, den auch der Pumpenhersteller Seepex aufgreift. Als Gateway für den zweiten Kanal dient bei den Exzenterschneckenpumpen ein Pump Monitor. Mit größter Präzision und Zuverlässigkeit misst er individuell festgelegte Prozesswerte wie Temperatur, Durchfluss sowie Druck und liefert die Daten für die Connected Services. Bei Trockenlauf, Überdruck oder Leckage schaltet er die Pumpe ab und schützt sie so vor Schäden.
Den Weg für ein ganzheitlich gedachtes Predictive Maintenance bereiten multifunktionale Sensoren. Sie „denken“ mit, kontrollieren sich selbst und helfen dem Personal, durch präzise Handlungsanweisungen Fehlfunktionen zu beheben. Neben den eigentlichen Prozesswerten sammeln sie Zustandsinformationen wie Reibewerte, Schwingung, Frequenz und Luftfeuchtigkeit und verarbeiten diese direkt on board (Edge Analytics) oder in der Cloud. Am Motorgehäuse montiert, liefert ein solcher Sensor wie der Ability-Smart-Sensor von ABB aussagekräftige Informationen hinsichtlich möglicher Lagerschäden. Die Wartung kann entsprechend dem tatsächlichen Bedarf geplant werden und muss sich nicht mehr an allgemeinen Plänen orientieren.
Verschleiß auf Knopfdruck simulieren
Mit Blick auf die angesprochenen Beispiele lässt sich festhalten: Datengetriebene Predictive-Maintenance-Modelle gewinnen an Bedeutung in der Industrie, doch sie haben eine Schwachstelle. Da sie die Trends nur anhand vergangener Ereignisse extrapolieren, fehlt es an Daten zu Szenarien, die bis dato nicht aufgetreten sind. Ein neuer, vielversprechender Lösungsansatz ist daher das Simulieren derartiger Fehlerbedingungen und Ausfallszenarien. Im Zentrum dieser Aktivitäten steht der digitale Zwilling, das virtuelle Abbild der realen Anlage. Mit ihm soll sich die vorausschauende Instandhaltung auf ein neues Level heben lassen. Ein Thema, mit dem sich zunehmend die angewandte Industrieforschung beschäftigt. „Erst durch die ganzheitliche Nutzung aller wesentlichen Informationen über den gesamten Lebenszyklus hinweg können die Potenziale eines digitalen Zwillings vollständig ausgeschöpft werden“, bestätigt Andreas Werner vom Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO. Eine IIoT-Architektur mit einer daraus abgeleiteten systematischen Vorgehensweise bildet auch für ihn die Grundlage für die Integration einer vorausschauenden Instandhaltung in die bestehenden Unternehmensprozesse. Gemeinsam mit dem kooperierenden Institut für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement IAT der Universität Stuttgart und weiteren 17 Partnern aus neun Ländern hat das Team um Andreas Werner und Joachim Lentes im Rahmen des EU-geförderten Projekts Z-BRE4K Lösungen zur Datenerfassung und -verarbeitung auf der Grundlage digitaler Zwillinge erarbeitet. Im nächsten Schritt sollen diese vermehrt in die deutsche Industrielandschaft überführt werden. Das Fraunhofer IAO unterstützt die Unternehmen dabei von der Erarbeitung einer individuellen Roadmap über eine unabhängige Beratung für den Einsatz benötigter Technologien und Software bis hin zur Realisierung konkreter Lösungsansätze. Aus rein technischer Perspektive sei bereits vieles mit dem digitalen Zwilling möglich, meint Werner. „Aber“, schränkt er ein, „unserer Erfahrung nach ist noch viel Grundlagenarbeit bei den Unternehmen notwendig, vor allem auch hinsichtlich organisatorischer Aspekte.“ Die Potenziale von Predictive-Maintenance-Anwendungen sind also noch lange nicht ausgeschöpft.
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