Neste hat sich zum Ziel gesetzt ab 2030 1 Mio. t Kunststoffabfälle pro Jahr zu verarbeiten. Woher beziehen Sie die Kunststoffabfälle in dieser großen Menge?
Outi Teräs: Die Technologie des chemischen Recyclings befindet sich noch in der Entwicklung. Wir arbeiten daran, Kapazitäten im industriellen Maßstab zu ermöglichen und zu etablieren. In Europa werden jedes Jahr etwa 29 Mio. t Plastikabfall erzeugt, weltweit liegt die Menge bei mehr als dem Zehnfachen. Da heute nur rund 10 % davon recycelt werden, sehen wir keine Gefahr, dass uns auf dem Weg zu unserem Ziel der Plastikabfall ausgeht. Allerdings sind die Kapazitäten zur Verflüssigung heute noch begrenzt. Für unsere Testreihe mit flüssigem Kunststoffabfall haben wir bei der Beschaffung des Materials mit verschiedenen Partnern in der Wertschöpfungskette zusammengearbeitet. Zudem arbeiten wir am Aufbau von Lieferketten mit verschiedenen Partnern, die unterschiedliche Technologien für die Verflüssigung von Plastikabfällen etablieren. Und nicht zuletzt arbeitet Neste auch selbst an diesem Aufbau – gemeinsam mit unserem Partner Ravago.
Was gab den Antrieb für dieses große Projekt?
Teräs: Alles, was wir bei Neste tun, dient einem Zweck: Wir wollen einen gesünderen Planeten für unsere Kinder schaffen. Über die vergangenen zehn Jahre hat sich unser Unternehmen von einer lokalen Ölraffinerie zu einem der führenden Unternehmen für erneuerbare und Kreislauflösungen gewandelt. Unser Unternehmenszweck treibt uns an, neue Wege zu finden, um die Emission von Kohlenstoff in die Atmosphäre zu senken – und innovative Kreisläufe zu schaffen, um Kohlenstoff immer wieder und wieder zu nutzen. Vor diesem Hintergrund treiben wir das chemische Recycling voran: als einen entscheidenden Faktor auf dem Weg zur Kreislaufwirtschaft für Kunststoffe.
Welche Rohstoffe lassen sich aus den Kunststoffabfällen gewinnen und in welcher Reinheit?
Teräs: Wir verfolgen mit dem chemischen Recycling das Ziel, Kunststoffabfälle zu verarbeiten, die sich mechanisch nur schwer wiederverwerten lassen. Diese landen derzeit in der Verbrennung oder in Deponien. Stattdessen wollen wir sie in hochwertige Rohstoffe für neue Kunststoffe und Chemikalien verwandeln. Durch Verflüssigung und Raffinierung können wir sie zu einem hochwertigen Ersatz für fossile Rohstoffe in der Petrochemie verarbeiten. Das ist ein wichtiger Vorteil des chemischen Recyclings: Es gibt durch das Recycling keinen Qualitätsverlust. Kunststoffe, die aus chemisch recycelten Kohlenwasserstoffen hergestellt werden, sind unbegrenzt einsetzbar – auch in anspruchsvollen Anwendungen wie in der Medizin oder bei Kontakt mit Lebensmitteln.
Wie ist das Verhältnis zwischen eingesetztem Plastikmüll und gewonnenem Rohstoff?
Teräs: Das lässt sich nicht eindeutig beantworten, weil der Ertrag an nützlichen Produkten von der Qualität der Plastikabfälle und teilweise auch vom Prozess der Verflüssigung abhängt. Wenn die Abfälle stark verschmutzt sind, z. B. durch Erde oder Biomasse, oder der Anteil anorganischer Füllstoffe sehr hoch ist, dann sinkt auch der Ertrag, weil wir diese Teile nicht zu Öl verarbeiten können.
Welche Verfahrensschritte umfasst das chemische Recycling?
Teräs: Der Prozess des chemischen Recyclings bei Neste lässt sich in drei Schritte gliedern: Zunächst wird Plastikabfall thermochemisch verflüssigt, etwa durch Pyrolyse oder hydrothermische Verflüssigung. Flüssige Plastikabfälle ähneln Rohöl, enthalten aber auch störende Verunreinigungen und herausfordernde chemische Strukturen, die in Rohöl üblicherweise nicht vorkommen. Im nächsten Schritt – der Vorbehandlung und Aufwertung – geht es daher darum, diese zu entfernen und die Struktur zu optimieren. Zuletzt werden die Zwischenprodukte dann in unserer klassischen Ölraffinerie zu hochwertigen Rohstoffen verarbeitet, aus denen sich neue Kunststoffe und Chemikalien herstellen lassen, etwa durch Steam Cracking.
Was ist das Pulse-Projekt?
Teräs: Bei Projekt Pulse geht es um die Implementierung von Technologien für den Schritt der Vorbehandlung und Aufwertung und die Integration dieser Technologien in unsere Raffinerie in Porvoo, Finnland. Pulse bildet daher eine wichtige Brücke zwischen verflüssigtem Plastikabfall und hochwertigen Rohstoffen für die Petrochemie. Die Technologien dafür kommen von Neste selbst und bisher sind keine externen Partner an der Entwicklung beteiligt. Für die Finanzierung haben wir einen positiven Bescheid des EU Innovation Fund erhalten. Das zeigt auch, dass die EU das chemische Recycling unterstützt – als eine der entscheidenden Technologien auf dem Weg zur Kreislaufwirtschaft.
Haben Sie schon erste Ergebnisse für das Recycling im großen Stil?
Teräs: Wir haben 2020 damit begonnen, flüssige Plastikabfälle in unserer Raffinerie zu verarbeiten. Die erste Testreihe haben wir im Januar 2022 in Porvoo erfolgreich abgeschlossen. Im Verlauf der Tests ist es uns gelungen, flüssige Plastikabfälle zu Drop-In-Lösungen für die Kunststoffproduktion zu verarbeiten, also zu solchen, die in bestehenden Anlagen verarbeitet werden können. Derzeit setzen wir den Einsatz mit größeren Mengen Plastikabfall fort.
An welchen Standorten soll das Recycling stattfinden?
Teräs: Projekt Pulse konzentriert sich auf den Aufbau von Kapazitäten zur Vorbehandlung und Aufwertung in unserer Raffinerie in Porvoo. Dort werden wir die Zwischenprodukte dann auch in der konventionellen Ölraffinerie einsetzen. Der erste Schritt der Prozesskette, also die Verflüssigung von Plastikabfall, kann und sollte eher dezentral erfolgen, um den Transport großer Mengen Plastikabfall über lange Strecken zu vermeiden. Beispielsweise schauen wir uns in unserem Joint Venture mit Ravago einen Standort zur Verflüssigung in Vlissingen in den Niederlanden an.
Welche Produkte stellt Neste aus den recycelten Kunststoffen her?
Teräs: Unser Endprodukt sind Kohlenwasserstoffe für die Kunststoff- und Chemieindustrie, die wir unter der Marke Neste RE vertreiben. Neste RE steht für „REnewable and REcycled“ und kann aus erneuerbaren oder recycelten Rohstoffen hergestellt werden. Die recycelte Komponente basiert auf chemischem Recycling. Die erneuerbare Komponente basiert auf der eigenen NEXBTL-Technologie von Neste, die 100 % biobasierte Rohstoffe wie Abfall- und Restöle und -fette als Rohstoff nutzt. Neste RE kann als Drop-In-Lösung fossile Rohstoffe ersetzen und es können die gleichen Anwendungen und Produkte hergestellt werden wie aus fossilen Rohstoffen. Es gibt keine Einbußen bei der Prozesseffizienz, der Produktsicherheit oder der Recyclingfähigkeit.
Plant Neste zukünftig auf rohölbasierte Produkte zu verzichten? Gibt es hier einen Zeitplan?
Teräs: Während wir uns auf unser Geschäft mit erneuerbaren Produkten konzentrieren und in unsere weltweite Produktionskapazität investieren, setzt auch unser traditionelles Ölraffineriegeschäft seine Transformation fort. Wir verfolgen derzeit das Ziel, ab 2030 über 10 % erneuerbare und kreislauffähige Rohstoffe in unserer konventionellen Raffinerie einzusetzen. Erste Rohölmengen ersetzen wir bereits heute durch erneuerbare Rohstoffe und verflüssigte Plastikabfälle. Wir haben etwa kürzlich einen neuen Treibstoff für Schiffe auf den Markt gebracht: Neste Marine 0.1 Co-processed. Dabei handelt es sich um eine emissionsärmere Lösung für die Schifffahrt, die die Treibhausgasemissionen gegenüber fossilen Treibstoffen um bis zu 80 % senken kann. Der Treibstoff wird in unserer konventionellen Raffinerie in Porvoo hergestellt, wo erneuerbare Rohstoffe gemeinsam mit fossilen Rohstoffen im normalen Raffinerieprozess verarbeitet werden. Und auch wenn unsere Ölraffinerie in Porvoo bereits zu den effizientesten und vielseitigsten in Europa gehört, wollen wir bis 2030 an die Spitze vorrücken. Wir wollen etwa bis 2030 die Kohlenstoffemissionen in der Produktion um 50 % senken und bis 2035 kohlenstoffneutral produzieren. Windenergie ist eine von rund 80 Maßnahmen, die wir zur Senkung der Treibhausgasemissionen im Betrieb identifiziert haben. Bis 2023 wollen wir den Einsatz erneuerbarer Energien in der Raffinerie in Porvoo auf 100 % steigern.
Neste Germany GmbH, Düsseldorf
Das Interview führte für Sie: Daniela Held
Redakteurin