Die Globalisierung und ihre Dynamik verändern sich. Märkte verschieben sich, die Nachfrage schwankt stärker und mit ihr verlagern sich Produktionskapazitäten rund um den Globus. Mit Beginn der Corona-Krise hat sich ein weiteres Problem in den Vordergrund geschoben: die Verlässlichkeit von Lieferketten. Seit den ersten Produktionsausfällen wird die Abhängigkeit von einzelnen Gliedern in der Kette kritischer beäugt. Betreiber, aber auch Zulieferer der Prozess- und Verfahrenstechnik spüren den Druck, flexibler auf Veränderungen reagieren zu können. Prominentestes Beispiel sind die Corona-Impfstoffe. Millionen Menschen in kurzer Zeit zu impfen gelingt nur, wenn flexible und einfach skalierbare Prozesse vorhanden sind.
Grundgedanke der Modularisierung
Eine Lösung lautet, modulare statt monolithischer Anlagen zu nutzen. Allerdings funktioniert eine verfahrenstechnische Produktion als Summe modularer Komponenten nur, wenn einheitliche Standards vorhanden sind und das Konzept von allen Beteiligten gelebt wird. An diesem Ziel arbeiten Gremien wie Namur, ZVEI und VDI/VDE seit einigen Jahren intensiv. „Auch wir bei Wago helfen Anwendern, die Vorteile der modularen Denkweise in ihrem Betrieb zu realisieren“, sagt Lukas Dökel. Er ist Global Industry Manager Process bei Wago und erklärt: „Das Modul Type Package, kurz MTP, als standard- und herstellerunabhängige Beschreibung von Prozessmodulen bzw. Package Units bietet eine effiziente Integration in Automatisierungssysteme.“ MTP gilt als Voraussetzung für die modulare Produktion und ist wichtig, um Kommunikations- und Konnektivitätsprobleme zu lösen.
Vorteile der modularen Produktion
Die Vorteile und Herausforderungen der modularen Produktion aus Sicht der großen Anlagenbetreiber war Thema einer Podiumsdiskussion im Rahmen der digitalen Messe Wago Live SPS im Dezember 2020. Dabei wurde deutlich, dass die Betreiber großes Potenzial in der modularen Arbeitsweise vor allem bei der Prozessentwicklung und -umgestaltung sehen. Beispiel Merck: Hier gibt es viele Produkte mit kurzen Lebenszyklen, die sehr schnell entwickelt und produziert werden müssen. „Wenn ein Produkt am Markt erfolgreich ist, versetzt uns die modulare Arbeitsweise in die Lage, die Kapazitäten durch ein Numbering-up schnell zu erhöhen“, sagt Manfred Eckert, Process Development Association Director Performance Material bei Merck. Hintergrund ist, dass Beschaffung, Installation und Inbetriebnahme von standardisierten Modulen deutlich schneller passieren können, als dies bei einem typischen Scale-up möglich ist. Plug-and-produce als Ergebnis eines funktionierenden modularen Ansatzes lautet das Ziel. Eckert führt einen weiteren Aspekt aus dem pharmazeutischen Umfeld ins Feld: die sehr aufwendigen und langwierigen Genehmigungsverfahren. „Mit modularen Konzepten sind wir in der Lage, die Zulassungsverfahren von heute einem Jahr deutlich zu verkürzen!“, sagt er.
In Funktionseinheiten denken
Doch was macht es so herausfordernd, ein modulares Konzept umzusetzen? Zunächst einmal muss im Gegensatz zu konventionell geplanten Anlagen bei MTP in Funktionseinheiten gedacht und gearbeitet werden. Eine Anlage in Module zu zerlegen und den idealen Modulzuschnitt zu wählen, ist nicht trivial. Hilfestellung bietet die Richtlinie VDI/VDE 2776. Ihr Ziel ist es u. a., die Verbindlichkeit und Akzeptanz von modularen Anlagen zu erhöhen, Basismodule und Schnittstellen von Versorgungsmedien, Energieträgern und Signalen zu standardisieren. Auch Evonik investiert in MTP und ist an zahlreichen Projekten beteiligt: „Für uns bleibt es eine wichtige Aufgabe, modulare Konzepte einzusetzen und im Rahmen von Kooperationen Erfahrungen zu sammeln“, sagt Polyana da Silva Santos, Lead-Engineer Process Control bei Evonik. Allerdings sei die Technik nur ein Thema: „Die große Herausforderung ist organisatorischer Natur. Wir brauchen Zeit, um Skeptiker und Zweifler mitzunehmen und zu überzeugen. Das dauert sehr lange. Daher lautet meine Empfehlung: Fangen Sie frühzeitig an! Wir bei Evonik haben das glücklicherweise gemacht und sind jetzt auf einem guten Weg. Und unser Team wächst und wächst. Das zeigt, dass die Akzeptanz mittlerweile da ist“, sagt sie.
Flexibler produzieren
Gerade im Aspekt, die Flexibilität von Brownfield-Anlagen zu verbessern, ohne die Komplexität der Anlage insgesamt erhöhen zu müssen, liegt für Michael Pelz, Manager Automatisierung und Digitalisierung bei Clariant, ein wesentlicher Vorteil des MTP-Ansatzes: „Da das MTP-Konzept auch für Package Units entwickelt wurde, können wir diese auch in bestehenden Anlagen wesentlich effektiver einsetzen und so deutlich flexibler produzieren – ein breites Einsatzgebiet, da in sehr vielen Produktionsanlagen Package Units zum Einsatz kommen.“ Das sieht man bei Evonik genauso. Auch hier ist die modulare Betriebsweise bereits fester Bestandteil der täglichen Arbeit, betont da Silva Santos: „Über 50 Module laufen derzeit bei Evonik mit MTP. Und wenn wir neue Module bauen oder beschaffen, werden sie immer mit MTP in Auftrag gegeben.“ Doch es müsse klar sein, dass hier mit Spezifikationen, die erst noch geschrieben werden müssten sowie mit Prototypen gearbeitet würde. Da sei es unvermeidbar, dass Fehler passieren und beseitigt werden müssten. Umso wichtiger sei es, agil zu sein. „Es muss allen Beteiligten klar sein: Die Anlagen müssen laufen!“, betont da Silva Santos. Bestes Beispiel ist für sie die Zusammenarbeit mit Wago. Unter den oben erwähnten 50 Modulen seien viele der Ostwestfalen. „Vom Planungsstadium bis jetzt, da die Komponenten produktiv sind, haben wir eine durchgehend sehr gute Zusammenarbeit mit Wago. Das hat nur funktioniert, weil wir eine gemeinsame Basis und ein gemeinsames Verständnis hatten“, blickt da Silva Santos zurück.
Alle Phasen des Anlagen-Lifecycles integrieren
Bei allem Stolz auf das Erreichte, das an diesem Tag alle Betreiber auf dem virtuellen Podium vereint, bleibt viel zu tun, wie Prozessentwickler Eckert aus Sicht von Merck resümiert: „Zwar haben wir in den Pilotprojekten schon funktionierende Prototypen entwickelt, dennoch bilden die derzeit vorhandenen Tools nicht die gesamte Wertschöpfungskette ab. Es gibt heute leider keine Standard-Tools, die ein Anlagenbauer kaufen und damit die gesamte Bandbreite an MTP umsetzen könnte“. Wie Jens Bernshausen, Engineering Manager bei Bayer ergänzt, ist die Basis für ein MTP-Engineering für Produktionsanlagen bereits gelegt: „Nutzerschnittstellen und Services werden in der VDI/VDE Namur Richtlinie 2658 standardisiert und befinden sich im Grün- oder Weißdruck. Das ist das Fundament für fehlende Funktionen wie Alarmmanagement, Maintenance, Diagnose oder Aspekte der Verfahrens- und Anlagensicherheit – dem sogenannten Safety-MTP.“ Und das Konzept soll ausgeweitet werden: Nach dem Engineering mit MTP lautet die Aufgabe, weitere Phasen des Lifecycles einer Anlage zu integrieren, wie Inbetriebnahme, Qualifizierung oder Nachverfolgbarkeit der Anlagenkonfiguration. Aber auch diese Themen würden derzeit von Namur und ZVEI im Namur-Arbeitskreis 2.4.1 unter der Überschrift Process Orchestration Layer diskutiert. Unter anderem zu den Schlagworten Wartung und Assetmanagement klären die Experten hier offene Fragen.
Geschäftsmodell der Zukunft
Aus dem MTP-Konzept und der Kombination mit dem Namur-Open-Architecture-(NOA)-Ansatz zur sicheren Kommunikation in Anlagen erwachsen zudem völlig neue Geschäftsmodelle, blickt Pelz in die Zukunft: „Nehmen Sie eine in der Produktionsanlage benötigte Kühlleistung. Heute muss eine dafür beschaffte Teilanlage aufwendig angebunden und vom Betreiber in das bestehende Wartungskonzept der Anlage integriert werden. Wenn künftig das MTP-Konzept in Verbindung mit NOA reibungslos funktioniert, sind Betreiber in der Lage, nur noch die reine Kühlleistung zu kaufen. Die Package Unit wird mittels MTP angebunden und alle anderen Instandhaltungs- und Modernisierungsaspekte können dann von Dritten, z. B. den Modullieferanten, übernommen werden.“ Da Silva Santos ergänzt: „Wenn wir es dann noch schaffen, schon in den ersten Schritten des Lifecycles ein Mapping von Fließbildern auf das MTP zu erzeugen, also beispielsweise die Daten der standardisierten Namur-Schnittstelle zum Austausch von Engineering-Daten zwischen CAE-System und PCS-Engineering-Werkzeugen zu integrieren, dann wären sämtliche Informationen enthalten und abrufbar – für jede Anlage. Dann hätten wir ihn, den lang ersehnten digitalen Zwilling der Anlage.“
WAGO Kontakttechnik GmbH & Co.KG, 32423 Minden
Autor: Frank Jablonski
Freier Journalist
Statement
„MTP ist für Wago ein strategisches Engagement. Wir werden die Umsetzung des MTP-Standards auch weiterhin begleiten und als Produkt umsetzen. Klar ist auch, dass Wago die Standardisierung von MTP auf dem Markt weiter vorantreiben und helfen will, einen weltweiten Standard zu etablieren. Wir unterstützen die Prozessindustrie heute schon mit passenden Produkten wie Reihenklemmen, Remote I/O, Touch Panels, unterschiedlichen Controllern sowie der richtigen Automatisierungssoftware. Wichtig ist, dass wir in gemeinsamen Projekten die Steine aus dem Weg räumen und Probleme lösen.“
MTP: Standard für Modulare Anlagen
Mit der Einführung des „Module Type Package“ (MTP) hat Wago die wesentliche Grundlage für die Automatisierung wandlungsfähiger Produktionsanlagen geschaffen. MTP arbeitet als standardisierte Schnittstelle und funktionales Abbild ganzer Anlagenmodule gemäß
VDI/VDE/Namur 2658. Mit MTP werden Eigenschaften von Prozessmodulen funktional beschrieben – und zwar hersteller- und technologieneutral. Die in sich abgeschlossenen Module, die von verschiedenen Herstellern stammen können, lassen sich leicht wiederverwerten und mit geringem Aufwand zu komplexen Gesamtanlagen verschalten. Die Kapselung der Funktionalitäten in den Modulen reduziert dabei die Abhängigkeiten untereinander und sichert somit das weitgehend rückwirkungsfreie Verhalten. Nutzen lässt sich MTP mit den Wago-Controllern PFC200 und PFC200 XTR, dem Edge Controller sowie den Touch Panels 600. Für das Modul engineering stellt die Engineeringsoftware e!Cockpit ein Add-on und eine Bibliothek mit vielen vorbereitenden Funktionen zur Verfügung. Sie beinhaltet neben der reinen Funktion auch die Beschreibung des Bedienbildes. Damit lässt sich leicht eine Bibliothek an wiederverwendbaren Modulen aufbauen. Dabei legt der Modulersteller fest, welche Informationen und Dienste er nach außen zur Verfügung stellt. Nach der Erstellung des Moduls wird das MTP automatisch generiert.