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Replatforming in der Prozesstechnik

Replatforming in der Prozesstechnik
So wird die IT-Landschaft fit für die Digitalisierung

Wie viele Branchen steckt auch die Chemieindustrie mitten in der digitalen Transformation. Rein digitale oder gar kooperative Geschäftsmodelle wie die B2B-Handelsplattformen Chemondis oder Gobuychem entwickeln sich zwar noch vergleichsweise zögerlich, dennoch investieren Unternehmen verstärkt in Digitalisierung, allen voran indem sie ihre Produktion automatisieren oder auf digitale Prozesssteuerung umrüsten.

Da heute in den meisten Unternehmen bereits eine komplexe, organisch gewachsene IT-Landschaft existiert, starten die entsprechenden Digitalprojekte selten auf der grünen Wiese. Die Nachfrage für „Replatforming“ steigt daher. Das bedeutet: Die Hauptaufgabe besteht darin, Bestehendes mit Neuem zu vereinen oder in Teilen zu ersetzen. In die Jahre gekommene Systeme stehen etwa vor ihrem End of Life und müssen ersetzt werden, bevor sie zum Stabilitäts- oder Sicherheitsrisiko werden, oder die Anforderungen im Unternehmen haben sich so verändert, dass die aktuellen Systeme sie nicht mehr erfüllen können.

Selten muss dabei auf einen Schlag das gesamte IT-System erneuert oder ausgetauscht werden. Digitalisierung funktioniert schrittweise und ist kein abgeschlossener Zustand. Das macht planvolles, strukturiertes Handeln unabdingbar. Im ersten Schritt sollten zunächst jene Handlungsfelder definiert werden, bei denen ein Austausch am dringendsten notwendig ist und die größten Effekte zeigt. Dabei gilt es von Beginn an langfristig zu planen und zu priorisieren. Systeme, durch deren Anpassung schnell Mehrwert generiert werden kann, etwa durch eine gesteigerte Wertschöpfung, sollten auch als Erstes ausgetauscht werden.

Digital, effizient und vor allem: nah an der Kundschaft

Ein Großteil des Transformationsdrucks entsteht durch die sich verändernde Erwartungshaltung von Geschäftskunden, ganz besonders in beratungsintensiven Branchen wie der Chemie. Diese wollen sich heute eigenständig online informieren, erwarten digitale Services wie 24–7-Support oder möchten direkt selbst bestellen können. Dinge, die aus dem B2C nicht wegzudenken sind, sind zunehmend auch im B2B mehr Standard als Differenzierungsmerkmal.

Unternehmen tun also gut daran, mit Prozessen und Systemen zu starten, die dei Kundschaft direkt betreffen, um dort neue, bestenfalls umsatzrelevante Mehrwerte zu generieren. Konkret geht es dabei vor allem um Frontends oder direkt zugängliche Funktionen, die Arbeitserleichterung oder Effizienzsteigerung bedeuten. Fortschritte machen sich hier meist kurzfristig bemerkbar, denn die Kunden spüren die Verbesserung sofort und passen ihr eigenes Verhalten an. Das wiederum liefert häufig auch gute Argumente, um das jeweilige Projekt intern voranzutreiben.

Umfassendes B2B-Kundenportal

Beispielsweise kann es sich lohnen, ein bestehendes CRM-System neu- bzw. weiterzuentwickeln hin zu einem umfassenden B2B-Kundenportal. Dort können Kunden einfacher und effizienter beraten werden oder im Self Service Informationen wie Produktdaten oder ihre Bestellhistorie abrufen. Ähnlich kundennahe, wenn auch stärker vertriebliche Einstiegspunkte lassen sich im digitalen Kontraktmanagement oder der Musterbestellung finden. Der Einkauf kann so individuelle Preiskonditionen, Kontingente und Abnahmezeiträume digital aushandeln, Musterprodukte bestellen und entlang der eigenen Neuentwicklung beraten werden. Das steigert nicht nur die Effizienz in der Beschaffung, sondern schafft eine zufriedenere Kundschaft.

Funktionsumfang Zug um Zug erweitern

Später lässt sich der Funktionsumfang Zug um Zug erweitern, etwa in Richtung E-Commerce mit Online-Shop, Marktplatzanbindung oder sogar die eigene Entwicklung zur Branchenplattform. Ein solches Vorgehen begünstigen vor allem modulare Frameworks, die bei der technologischen Umsetzung immer öfter zum Einsatz kommen. Weil einzelne Funktionen unabhängig voneinander implementiert werden können, sinkt der initiale Entwicklungsaufwand – und man bleibt flexibel für den weiteren Ausbau.

Neutrales Data Hub statt unübersichtliche Informationssilos

Früher oder später macht es Sinn, tiefer einzusteigen und die darunter liegenden Systeme anzupacken. Sofern es noch nicht besteht, geht dabei die Entwicklung dazu über, sich zunächst ein neutrales Data Hub in die Mitte der Systemlandschaft zu entwickeln. Dieser Hub bündelt die komplette Datenstrukturhoheit mitsamt den Zustandsänderungen aller Datensätze, dem Rollenmanagement und Schnittstellen. Dies kann etwa auf SQL-Datenbanken oder modernen Datenbanktechnologien wie MongoDB Atlas basieren.

Der Vorteil des Data Hubs: Sämtliche Anwendungen und Systeme können sich wesentlich leichter mittels universeller API an diese Schicht andocken und die jeweils von ihnen benötigten Daten herausziehen. Zudem wird die Entstehung von Informationssilos verhindert, die Analyse großer Datenmengen vereinfacht und die Anbindung neuer bzw. der Austausch ausgedienter Systeme maßgeblich erleichtert. In Folge steigt die Effizienz – und insbesondere die Flexibilität. Zukunftsfähig zu sein bedeutet immer häufiger, sich flexibel zu machen, um laufend nachjustieren zu können.

ERP Ade: Wandel in der IT-Architektur

Die Vorteile von Data Hubs führen aktuell zu einem grundlegenden Wandel in der IT-Architektur – so auch innerhalb der Chemieindustrie und Prozesstechnik. Seit Jahrzehnten dominieren in Systemlandschaften Enterprise-Resource-Planning-, kurz ERP-Systeme. Ging es ursprünglich darum, Produktion, Einkauf und Verkauf stärker zu integrieren, sind ERP-Systeme über die Zeit immer größer geworden. Heute bilden sie in den meisten Unternehmen eine Art Schaltzentrale in der Mitte der gesamten Systemlandschaft.

Doch je komplexer die Anforderungen an den Datenaustausch in modernen Unternehmen werden, desto deutlicher wird, dass ERPs für alles gemacht sind, außer Knotenpunkt für andere Systeme zu sein. Oftmals stehen ihnen ihre langsamen Datenbanken im Weg sowie die Tatsache, dass sie eingehende und ausgehende Daten jeweils transformieren müssen, anstatt die Datenströme grundlegend zu harmonisieren. Hinzu kommt eine generell schlechte Integrationsfähigkeit.

Unternehmen sind häufig besser beraten, wenn sie auf einen stärker kunden- und datenzentrierten Technologieansatz setzen, statt weiterhin teuer ihre ERP-Systeme zurechtzubiegen. Dieser Paradigmenwechsel ist wichtig und gut, verschiebt er doch die Perspektive: Statt die Abläufe und Prozesse im Unternehmen daran anzupassen, was die Technologie leisten kann, gilt es, die Wünsche und Bedürfnisse der Kundschaft als Ausgangspunkt zu nehmen. Zeigt sich im Ergebnis, dass das ERP-System nicht mehr die Schaltzentrale, sondern ein spezialisiertes System neben vielen anderen ist, dann ist das nur zu begrüßen. Denn so werden nicht nur starre Strukturen aufgelockert und Flexibilität gewonnen, sondern eine stärker bedarfsgerechte Produktion begünstigt.

Replatforming ist die Zukunft der Chemieindustrie

So riskant solche IT-Projekte sein können – ein Replatforming ist in erster Linie eine immense Chance, festgefahrene Strukturen aufzubrechen und neuen Anforderungen gerecht zu werden. Wichtig ist eine gute Priorisierung, kritische Analyse und der Aufbau von technologischer Expertise. Letzteres schafft die Basis, um technologische Verantwortung übernehmen zu können – und stärkt die eigene Position gegenüber Software-Anbietern.

Autorin: Sarah Hoidn, Senior Consultant, Turbine Kreuzberg

 

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