Herr Heine, seit Beginn dieses Jahres gilt der Brexit als vollzogen und ein Handelsabkommen tritt in Kraft. Wie bewerten Sie als Logistiker den Deal?
Alexander Heine: Lange hat es gedauert und wir in der Logistikbranche hatten natürlich ein besonderes Auge auf den Ausgang der Verhandlungen. Am Ende haben beide Parteien wohl ein annehmbares Ergebnis vereinbaren können. Aus Sicht der Logistik bleiben natürlich weiterhin viele Wünsche offen, aber mit Blick auf den Worst Case können wir schon von einer zufriedenstellenden Situation sprechen.
Inwiefern zufriedenstellend?
Heine: Zumindest blieb uns die Drastik eines No-Deal-Brexits erspart. Ein Handel über die britische Insel ohne Abkommen wäre einer Katastrophe gleichgekommen, denn auch schon die neuen abgeschwächten Regelungen sorgen für genügend Verwirrung und Chaos an den Grenzen. Besonders die internationale Chemie- und Pharmaindustrie plante immer fest mit dem Vereinigten Königreich als logistischem Knotenpunkt. Auf sie kommen nun ganze Kataloge von Richtlinien zur Überführung von Frachten, die Mitgliedsstaaten der Zollunion jahrelang erspart geblieben waren, zu.
Worauf müssen sich Chemiekonzerne sowie Ihre Logistiker nach dem Zerfall des freien Binnenmarktes in Richtung Großbritannien einstellen?
Heine: Wie sehr sich die Handhabe an den neuen EU-Außengrenzen verändert hat, lässt sich gut am Beispiel der neuen Anforderungen für die Chemieindustrie ablesen. Obwohl dieser Wirtschaftszweig selbstverständlich schon von Haus aus strengere Kontrollen gewohnt ist, hat sich der bürokratische Aufwand nun nochmals massiv gesteigert. Auch wenn der Handel ohne zusätzliche Verzollung im Grunde weiterhin frei bleibt, entstehen dadurch natürlich dennoch Kosten.
Welche Rolle spielt es, dass dieser Brexit-Deal dann doch eher überraschend kam?
Heine: Eine immense! Vor allem die fehlende Möglichkeit zur Vorbereitung auf die neue Situation, hervorgerufen durch lange politische Ungewissheit, bereitet Industrie und Logistik Sorgen. Alle Verhandlungen zum Ausstieg des Vereinigten Königreichs fanden hinter verschlossenen Türen statt – ohne Miteinbeziehung oder zumindest Informieren derjenigen, die an vorderster Front die praktischen Auswirkungen erleben. Einige in Großbritannien ansässige Chemiekonzerne wurden so bereits zu sehr spontanen Änderungen der Lieferkette gezwungen, mit dem Ziel, die Insel und damit den bürokratischen Mehraufwand auf den Transportwegen künftig zu meiden. Dadurch wackelt die Vormachtstellung des Vereinigten Königreichs auf dem internationalen Handelsmarkt stark.
Welche Lösungsansätze geben Sie anderen Logistikern an die Hand?
Heine: Um Komplikationen und Verwirrungen zu vermeiden, hilft es nur, sich regelmäßig und gründlich über alle Neuerungen zu informieren. Kein leichtes Unterfangen, da sich die Situation an den Grenzen und damit die einzelnen Abwicklungsprozesse bisher täglich zu ändern scheinen. Wirklich zuverlässige und vor allem aktuelle Informationen erhalten betroffene Unternehmen nur von offizieller Stelle – den zuständigen Zollbehörden.
Ähnlich kompliziert gestaltet sich die Lage für die Pharmaindustrie. Allerdings mit möglicherweise drastischeren Auswirkungen, oder?
Heine: In der Tat. Nicht auszudenken, welche Folgen ein Lieferstopp oder auch nur Engpässe auf diesem Sektor haben könnten, hängen an diesem Produkt doch nicht nur wirtschaftliche, sondern auch gesundheitliche Faktoren. Über eine Milliarde Arzneimittelpackungen überqueren jährlich die nun gezogenen Grenzen zwischen der Europäischen Union und Großbritannien. Vor allem in der jetzigen Pandemie-Situation konnten deshalb im medizinischen Handel bereits Kompromisse geschlossen werden.
Die da wären?
Heine: Das Vereinigte Königreich erlaubt beispielsweise schon einseitig Einfuhren von in der EU bereits zugelassenen Arzneimitteln, was eine deutliche Verkürzung der bürokratischen Schritte darstellt. Auch eine Einigung über eine grundsätzliche gegenseitige Anerkennung von amtlichen Dokumenten über die Inspektion von Herstellungsanlagen entlastet den In- und Export von Medikamenten extrem. Weitere Schritte sollten trotzdem folgen, denn auch dieser logistische Bereich gerät ins Stocken, solange immer eine qualifizierte Person bei Grenzkontrollen jeden Pharmatransport – oft sogar jedes geladene Produkt – bis ins kleinste Detail untersuchen und einzeln absegnen muss.
Auch die Lebensmittelindustrie und ihre Logistiker klagen bereits und es war sogar schon von leeren Regalen in nordirischen Supermärkten die Rede. Wie lässt sich das in Zukunft vermeiden?
Heine: Da sieht der Otto Normalverbraucher erst mal, welche immense Bedeutung der EU-Binnenmarkt auch für den Alltag eines jeden britischen Bürgers hatte. Nordirland gilt nur als konsultierender Teil des Vereinigten Königreichs und bleibt daher in der bisherigen Zollunion – die vorherige Staatengrenze wandelt sich nun zur EU-Außengrenze, mit allen bereits beschriebenen Konsequenzen. In diesem Fall wackelt sogar die im Handelsabkommen eigentlich festgeschriebene und in der Öffentlichkeit als großer Erfolg angepriesene Zollfreiheit: Die mit der EU vereinbarte Erlassung gilt nicht für Güter, die importiert und gleich wieder exportiert werden. Alternative Lieferrouten und bislang unkonventionelle Packsysteme können dafür sorgen, dass in Zukunft die Einkaufswagen nicht mehr leer bleiben und Großbritannien zusätzlich seine Stellung als wichtige Handelsmacht nicht verliert.
Kann dies auch eine langfristige Lösung für alle genannten Branchen sein?
Heine: Nicht wirklich. Auf lange Sicht muss eine regulative Lösung her. Die britische Regierung arbeitet laut eigener Aussage bereits in Zusammenarbeit mit der Lebensmittelindustrie an einer Lösung. Sie sollten sich jedoch sputen, denn je länger dieser Schwebezustand zwischen Brexit-Auswirkung und alter Zollunion an den neuen Grenzen noch anhält, desto erheblicher wird der finanzielle Schaden für alle Beteiligten.
Können Sie uns zum Abschluss vielleicht dennoch einen positiven Ausblick auf bessere Zeiten geben?
Zukunftsprognosen zu treffen, fällt momentan noch sehr schwer – alle Parteien müssen sich auf die neuen Regelungen einstellen und ihre Prozesse anpassen. Als relativ sicher gilt wohl, dass britische Exporte einen enormen Einbruch erleben werden, auch wenn die Entscheidungsträger den kompletten Zusammensturz durch das Handelsabkommen noch verhindern konnten. Für alle anderen zählt: Solange aus Brüssel oder London keine Anpassungen der Grenzregularien erfolgen, profitieren vor allem die Unternehmen und Branchen, welche die vorherrschende Situation am besten und schnellsten adaptieren – und Industrie sowie Logistik zeigen sich bei Widrigkeiten schon seit jeher sehr wandlungsfähig.