Gensequenzierungen beispielsweise und damit die Chance auf passgenauere, individuelle Behandlungen waren dank des technischen Fortschritts noch nie so einfach und billig zu haben wie heute. Riesige Mengen an digitalen Daten, wie sie durch Gentests oder Fitnessbänder gesammelt werden, sind mit Cloud-basierter Rechenkapazität betriebswirtschaftlich sinnvoll auswertbar geworden. Diese Rechenleistung können Firmen bei den großen Software-Konzernen je nach Bedarf mieten. Die Verknüpfung mit persönlichen Kundendaten, Bewegungs- und Social-Media-Profilen ermöglicht Prognosen: Per Auswertung in Echtzeit lassen sich Grippewellen regional vorhersagen. Die Produktion von Impfstoffen und Medikamenten könnte rechtzeitig hochgefahren werden.
Gleichzeitig erhöhen 4.0-Konzepte die Effizienz in der Produktion. Die industriellen Prozesse im Pharmabereich können von der Beschaffung über die mikrobiologischen Prüfverfahren und Medikamentenherstellung bis zur Logistik genauer als bisher kontrolliert und gesteuert werden – immer öfter ohne Zutun eines Menschen. Die Qualität der Produkte wird dabei durch die vorherige Bewertung des Produktionsdesigns und sensorgestützt durch die maschinelle Überwachung der Prozesse bis hin zur Verschleißprognose gesichert. Eine Schlüsselrolle fällt dabei der selbst lernenden Rechenleistung zu, der künstlichen Intelligenz (KI). Was bis vor wenigen Jahren Zukunftsmusik war, ist heute tatsächlich einsetzbar: Die großen Cloud-Dienstleister locken Unternehmen mit Software, die sich selbst schult. Nachdem diese zunächst das Regelsystem erfasst hat, etwa die Spielregeln von Schach, verbessert sie in raschem Tempo ihre Spielweise, bis sie nach wenigen Stunden unschlagbar geworden ist. Das funktioniert natürlich nicht nur mit Schach, sondern mit vielen Anwendungen und Regelkreisen. Da lernende KI sich selbst beschleunigen kann, sehen viele Fachleute die Menschheit nun an der Schwelle zu exponentiellem Wachstum.
Positive Effekte
Solche Chancen aus vermehrter Automatisierung, verbesserter Datenauswertung und digitaler Vernetzung – kurz Industrie 4.0 – gibt es in jeder Industrie. Technologisch gesehen wäre die pharmazeutische Industrie für Konzepte von Industrie 4.0 daher ein genauso geeigneter Kandidat wie jeder andere produzierende Wirtschaftszweig. Für Pharmabetriebe wären sogar große positive Effekte zu vermuten. Da sie bereits heute die Produktionsqualität streng überwachen und dokumentieren müssen, um wirkstoffgleiche Chargen und keine Gefahren hervorzubringen, haben sie einen Anreiz, dies mit neuen Technologien kostengünstiger zu bewerkstelligen. Außerdem fertigen sie kapitalintensiv hochpreisige Produkte, was weitere Investitionen in den Fortschritt attraktiv macht. Automatisierung wäre für sie attraktiv, zum einen da sie den Menschen aus dem Produktionsprozess entfernt, der in der Reinraumfertigung kostenintensiv und im Gegensatz zu Maschinen fehlerträchtig ist. Zum anderen wären neue, innovative Produktionsdesigns möglich, außerdem höhere Fertigungsgeschwindigkeiten, neue Blockbuster-Medikamente und flexiblere Losgrößen, schnellere Zulassungsverfahren, kostengünstigere Forschung …
Medikamente 4.0: Wo bleiben sie?
So fantastisch die 4.0-Zukunft der Pharmaindustrie beschrieben werden kann, so ernüchternd fällt der Blick auf die Gegenwart aus. „Die Betriebe, die neue Methodiken und Konzepte am meisten brauchen, die beschäftigen sich damit am wenigsten“, sagt Benedikt Fischer, CTO der Itelya GmbH & Co KG, der Firmen auf dem Weg in die digitale Zukunft begleitet. Zu Fischers Kunden in Sachen Industrie 4.0 zählen z. B. Hotelbuchungsportale, FinTecs, Maschinenbauer mit Online-Plattformen, Dokumentenmanagement- und ein Personaldienstleister, der 4.0-fähiges Personal ausbildet, „aber keine einzige Pharmafirma“.
Auch wir Reinraumplaner von Dittel Engineering haben im Industriesektor zwar einige Kunden mit 4.0-Ambitionen, darunter aber nicht eine Pharmafirma. Umfragen zufolge ist Industrie 4.0 im Pharmabereich kein herausragendes Thema. Zumindest war es das noch nicht im Jahr 2015, als die Unternehmensberatung Camelot 30 Manager von Pharmafirmen aus 16 Ländern dazu befragte. Die Führungskräfte erwarteten damals, dass es noch 15 Jahre brauche, ehe die Pharmabranche ihre Wertschöpfungskette digitalisiere und vernetze.
„Pharma 4.0“ bedeutet eine große Umstellung. Dieser Aufwand betrifft nicht nur die Produktion, sondern alle Unternehmensbereiche von der Beschaffung übers Personalmanagement bis zur Logistik. „Eine Maschine mit digitaler Schnittstelle ist nicht Industrie 4.0“, sagt Fischer. „Die ganze Wertschöpfungskette müsste digitalisiert sein.“ Versuche konsequenter Automatisierung gab es bei Medikamentenherstellern bislang nur in isolierten Projekten und Bereichen, auch weil die übergreifende Software dafür fehlte, komplexe Abläufe digital abzubilden und auszuwerten. Mögen in manchen Landstrichen die langsamen DSL-Verbindungen der Unternehmensdigitalisierung im Weg stehen, erklärt das nicht, dass auch Firmen mit ausreichender Anbindung weiterhin zögern. Damit treten andere Gründe als Hemmnisse in der Pharmaindustrie hervor: marktstrukturelle, regulatorische und ethische.
Zudem lässt sich mit den bisherigen Methoden im Pharmasektor noch richtig gut Geld verdienen. Die Branche ist es gewohnt, ihre Produkte mit hohen Margen absetzen zu können. In so einer bequemen Situation fehlt die Motivation, bisherige Abläufe über den Haufen zu werfen und Neues zu probieren. Das heißt nicht, dass die Digitalisierung in der Branche nicht permanent diskutiert, betrachtet, bewertet wird. Die Forderungen der Verbände der chemisch-pharmazeutischen Industrie richten sich in aller Regel zuerst an die Politik, etwa nach schnellerem Breitbandausbau, angepasstem Datenschutz und digitalen Ausbildungsinhalten.
Behörden 1.0: Wettbewerb nicht vorgesehen
Im Pharmamarkt ist auch nicht zu erwarten, dass kleine und neue Start-ups durch die Digitalisierung die Branche aufrollen und die etablierten Platzhirsche das Fürchten lehren. Dafür sorgt das hohe regulatorische Normierungsniveau. Es wirkt im Pharmasektor wie eine Marktzutrittsbarriere für neue, technologisch wagemutige Wettbewerber. Die Gewährleistung hoher Qualität und der Schutz vor Produktfälschungen sind nämlich nur die eine Seite des strengen Regulierungsniveaus. Zur Kehrseite gehört, dass der regulierte Markt die Pharmakonzerne vor Konkurrenz schützt und ihnen den Erhalt von Marktmacht garantiert. Das lässt sich nicht nur in Europa, sondern auch in Japan und den USA beobachten: Die Länder, besonders Japan, verlangen höchste Standards, welche den Markt abgrenzen und die Eigenproduktion fördern.
Das strenge Regulierungsregime in Deutschland regelt bis ins Detail, wie Medizin produziert werden muss. Aspirin könnte mittlerweile robotertechnisch in einer Garage hergestellt werden. Das zu probieren, kommt jedoch keinem Start-up in den Sinn, da das Gesetz die Produktion explizit in einem Reinraum vorschreibt. Das unterscheidet den Pharmabereich von anderen Industrien, die keine derart strengen Produktionsgebote befolgen müssen. Industrieprodukte, etwa Gangschaltungen für Fahrräder, werden bereits hergestellt, ohne dass sie je eine Menschenhand berührt hätte – undenkbar in der Pharmaindustrie. Längst könnten Zytostatika für die Krebsbehandlung, die bislang per Hand zusammengemischt werden, von Robotern in eingehauster Umgebung effizienter hergestellt werden. Technologisch ist das möglich – nicht jedoch gesetzlich. Die Behörden sehen die Delegation lebenswichtiger Entscheidungen – und dazu gehört die Zusammenstellung von Medikamenten – an Maschinen nämlich skeptisch.
Auch die ungeklärte Frage der Produkthaftung bremst die weitere Automatisierung. Das Produkthaftungsrecht gibt noch keine Antwort auf die Frage, wer bei Fehlern die Schuld zu tragen hat: der Hersteller des Roboters? Oder dessen Betreiber? Oder der Softwarehersteller, die zertifizierende Behörde oder doch das aufsichtführende Bedienpersonal?
Szenarien für die Pharmabranche
Industrie-4.0-Konzepte treffen in der Pharmaindustrie also vor allem auf Bedenken und Beharrung – allerdings nicht auf allen Kontinenten. Der bremsende Einfluss von Normen und Ethik fehlt in manchen anderen Ländern. Die Diskrepanz zwischen dem, was erlaubt ist, zieht bereits heute fähiges Personal zur Arbeit in die Ferne, etwa die USA. Wer die Freiheiten von Pharmaindustrie 4.0 testen will, der geht ins Ausland. Neue Produktionsverfahren und Arbeitsformen, die bei uns noch nicht genehmigungsfähig sind oder nicht als ethisch vertretbar gelten, werden anderswo zum Einsatz kommen.
Das sollte Anlass zum Umdenken geben. Kommt es nicht dazu, wird sich die einheimische Forschung und Produktion entweder komplett in Länder wie China verlagern oder die Fertigungstiefe hiesiger Hersteller sinkt bis zu einem gewissen Grad und wird um zugekaufte, GMP-konforme Komponenten ergänzt. Qualitativ hochstehende, aber innovationsarme Pharmahersteller werden dann mit innovativen Firmen konfrontiert werden, die geringerer Regulierung unterliegen. Trotz aller Hindernisse wird Industrie 4.0 in der Medizin- und Pharmabranche nicht auf Dauer aufzuhalten sein.
Suchwort: phpro0418dittelengineering