Das Verfahren, Gewebe aus Zellkulturen zu züchten, stammt aus der regenerativen Medizin. Beim sogenannten Tissue Engineering werden aus einem Spenderorganismus Stammzellen gewonnen, im Labor vermehrt und schließlich als Gewebeersatz im Körper eingepflanzt. Mit dieser Technik lässt sich auch Fleisch in vitro herstellen. Dabei werden zunächst mit einer Biopsie dem Tier Stammzellen entnommen. Anschließend werden die Zellen mit einem Nährmedium in einem Bioreaktor vermehrt, durchlaufen dabei verschiedene Stadien und entwickeln sich schließlich zu Muskelfasern. Über ein Trägergerüst wachsen die Muskelfasern dann zu einer größeren Masse zusammen. Bisher lassen sich mit dieser Methode allerdings erst sehr dünne Muskelschichten erzeugen. Von der Produktion kultivierter Steaks in größerem Maßstab ist man noch weit entfernt.
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Zahl der Start-ups wächst
2013 präsentierte der niederländische Pharmakologe Mark Post, der das Start-up Mosa Meat leitet, den ersten kultivierten Burger aus Rindfleisch. 2016 stellte Memphis Meat kultivierte Fleischbällchen aus Rinderstammstellen vor und 2017 folgte das erste In-vitro-Geflügelfleisch des US-amerikanischen Start-ups, das sich heute Upside Foods nennt. Ende 2020 wurde schließlich das erste kultivierte Fleischprodukt in Singapur behördlich zugelassen und dort in einem Restaurant angeboten. Es handelt sich dabei um Chicken-Nuggets des US-amerikanischen Start-ups Eeat Just, die mit pflanzlichen Proteinen gestreckt werden.
„2020 markiert einen Meilenstein in der Geschichte von Fleisch, da in diesem Jahr zum ersten Mal kultiviertes Fleisch auf die Speisekarte eines Restaurants kam“, schreibt das Good Food Institut (GFI) in einem aktuellen Branchenreport. Das GFI ist eine internationale gemeinnützige Organisation, die sich nach eigenen Angaben für den Aufbau eines nachhaltigen, sicheren und gerechten Lebensmittelsystems einsetzt und dafür sowohl mit Unternehmen als auch mit Investoren zusammenarbeitet. Nach Angaben des GFI belief sich die globale Investitionssumme in der In-vitro-Fleisch-Branche in den ersten drei Quartalen 2021 auf 763 Mio. Dollar und Ende November 2021 gab es weltweit bereits 84 Unternehmen, die sich ausschließlich mit der Entwicklung von kultiviertem Fleisch beschäftigen. „Das Interesse an kultiviertem Fleisch nimmt rapide zu, und wir haben 2021 eine Reihe von großen Lebensmittelunternehmen gesehen, die in die Vermarktung von kultiviertem Fleisch in Europa investieren“, sagt Carlotte Lucas, Corporate Engagement Manager bei GFI Europe. Beispielsweise hat im Oktober das brasilianische Fleischunternehmen JBS das spanische Start-up Biotech Foods übernommen.
Ebenso wächst die Zahl der B2B-Unternehmen, die in den Markt für kultiviertes Fleisch einsteigen und sich auf die Weiterentwicklung verschiedener Aspekte der zugrundeliegenden Technologie konzentrieren. So haben im September 2021 die Schweizer Firmen Bühler, Migros und Givaudan, ein Aroma- und Duftstoffhersteller, die Gründung eines Cultured Food Innovation Hubs in Kamptthal bei Zürich bekanntgegeben. Ziel des neue Unternehmen ist es, Technologien wie Zellkultur- und Fermentationskapazitäten, aber auch Wissen bereitzustellen, um Start-ups auf ihrem Weg zu kultiviertem Fleisch und anderen kultivierten Produkten zu unterstützen.
Dickere Fleischstücke noch ein Problem
Doch auch wenn immer mehr Unternehmen an der Entwicklung von kultiviertem Fleisch arbeiten, steckt diese Art der Fleischerzeugung aktuell noch in den Kinderschuhen. „Ein Problem ist zum Beispiel, die Kosten für die Nährlösungen auf ein akzeptables Niveau zu bekommen“, erklärt der Ernährungswissenschaftler Christian Dieckmann, der Lebensmittelunternehmen bei der Produktentwicklung berät. Fetales Kälberserum, das nicht nur ethisch problematisch, sondern auch sehr teuer ist, wird heute zwar in der Regel nicht mehr verwendet. Dennoch bewegen sich die Preise für die Nährstofflösungen laut Dieckmann aktuell noch auf Pharmaniveau. Erste Ansätze, die Nährlösungen in Filtersystemen aufzubereiten und so Kosten zu sparen, gibt es aber bereits.
Auch die gemeinsame Skalierung von Fett- und Muskelzellen in einem Fleischstück ist laut Dieckmann ein Problem. „Aktuell werden Muskel- und Fettzellen noch getrennt kultiviert, zum Beispiel auf Pellets, und dann zusammengebracht“ sagt Dieckmann. Daher sieht der Ernährungswissenschaftler auch für kultivierte Hackfleisch- und Brätprodukte die besten Chancen, in nicht allzu ferner Zukunft in Restaurantküchen oder Supermarktregalen zu landen. „Für Hackfleisch braucht man keine Marmorierung oder Fettäderchen, sondern es reicht, wenn man die Fett-, Muskel- oder auch Bindegewebezellen einfach nur mischt.“ Um dickere Fleischstücke herzustellen, sind dagegen Gerüste notwendig, die auch die Zellen in der Mitte des Fleischstücks mit Nährstoffen und Sauerstoff versorgen. „Diese Gerüste müssen in einen wirklich skalierbaren Prozess integriert werden. Das ist aktuell das dickste Brett, das noch zu bohren ist“, so Dieckmann. Zwar werde auch mit Bioprinting versucht, Schichten zu erzeugen, die eine Marmorierung bilden, aber die Integration von Fett- und Muskelzellen in einem Fleischstück sei auch mit dem 3-D-Druck noch jenseits einer marktfähigen Lösung.
Ein weiteres Problem ist die Größe der Bioreaktoren, in denen das In-vitro-Fleisch wachsen soll. Sie werden schon lange in der medizinischen Gewebezüchtung verwendet, jedoch braucht man in diesem Bereich nur sehr kleine Gewebestücke und deshalb auch sehr kleine Bioreaktoren. Selbst wenn einige Unternehmen schon erste Pilotanlagen gebaut haben, die größere Fleischmengen erzeugen können – das israelische Start-up Future Meat Technologies zum Beispiel gibt für seine Anlage eine Produktionsmenge von 500 kg pro Tag an – ist die Skalierung der Bioreaktoren auf einen industriellen Maßstab noch eine technische Herausforderung.
Auf die Umweltbilanz kommt es an
Hier knüpft auch ein Problem an, das Silvia Woll vom Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) benennt. „Es ist sicher, dass die Bioreaktoren sehr viel Energie verbrauchen werden“, sagt Woll, die sich von 2015 bis 2017 im Projekt „Visionen von In-vitro-Fleisch“ mit dem Thema beschäftigt hat und weiterhin regelmäßig die Literatur zu dem Thema sichtet. „Wir müssen davon ausgehen, dass In-vitro-Fleisch noch mehr Energie verbraucht als die aktuelle Nutztierhaltung. Wenn wir es bis zu dem Zeitpunkt, zu dem wir in einem relevanten Ausmaß In-vitro-Fleisch konsumieren, geschafft haben, Strom deutlich grüner zu erzeugen als jetzt, hätten wir in Hinblick auf das Klima sicher etwas gewonnen. Wenn nicht, ist es fraglich, ob kultiviertes Fleisch die Umweltbilanz insgesamt verbessern wird.“ Auf jeden Fall würde aber laut Woll durch den Konsum von kultiviertem Fleisch der Wasser- und der Landverbrauch sinken, „weil wir natürlich weniger Tiere halten müssten als jetzt“. Dabei stellt sich für die Technikphilosophin allerdings die Frage nach der Art der zukünftigen Tierhaltung. „Wenn wir die wenigen Tiere, die wir noch bräuchten, fernab von unserer Gesellschaft in Massenanlagen halten würden, hätten wir qualitativ nichts gewonnen.“
Das Tierwohl ist neben dem Geschmack und dem Preis das wichtigste Kriterium, wenn es um die Akzeptanz von kultiviertem Fleisch in der Bevölkerung geht, wie Woll berichtet. Eine Befragung von Bürgerinnen und Bürgern im Rahmen ihres Projektes hat gezeigt, dass sowohl für Fleischesser als auch für Veganer und Vegetarier die Verbesserung des Tierwohls der Hauptgrund wäre, kultiviertes Fleisch auszuprobieren.
Hersteller sondieren die Lage
Noch ist es zu früh abzuschätzen, wann kultiviertes Fleisch in Europa auf den Markt kommen wird, auch weil die Zulassung von neuen Produkten und Herstellungsprozessen innerhalb der EU oft mehrere Jahre dauert. Unternehmen der Lebensmittelindustrie sondieren trotzdem schon die Lage. Nestlé beispielsweise hat kürzlich berichtet, mit mehreren externen Partnern und Start-ups innovative Technologien zur Herstellung von kultivierten Fleischbestandteilen zu evaluieren. Nähere Angaben macht der Konzern aber nicht. „Es ist noch zu früh, um zu diesem Zeitpunkt weitere Aussagen machen zu können“, teilt der Konzern auf Anfrage mit.
Auch beim Zutatenhersteller Hydrosol steht kultiviertes Fleisch auf der Strategieagenda. „Das was man aktuell an kultiviertem Fleisch erhält, sind nur kleinste Muskelfasern oder eine Fettmasse“, sagt Produktmanagerin Katharina Schäfer. Der Masse, die aus der Mischung von kultivierten Muskelfasern und kultiviertem Fett hergestellt werden kann, fehlt es laut Schäfer in der Regel an Textur. Hier könnten die Stabilisierungssysteme von Hydrosol ins Spiel kommen. „Unsere Mischungen aus spezifischen Hydrokolloiden könnten dem Ganzen die nötige Textur und den Biss verleihen und damit letztlich auch das Mundgefühl optimieren. Ebenfalls könnte das Bratverhalten angeglichen werden“, erklärt Schäfer. Auch in der Kombination von In-vitro-Fleisch mit pflanzlichen Proteinen sieht sie Potenzial. „Erstens könnte damit der Preis in vielen Fällen reduziert und zweitens könnten die Produkte dadurch auch ernährungsphysiologisch aufgewertet werden.“ Aktuell bestehe seitens der Start-ups, die sich auf kultiviertes Fleisch fokussiert haben, großes Interesse, die Textur und die Qualität ihrer bisherigen Entwicklungen zu optimieren. Sobald ausreichend kultivierte Fleischmasse verfügbar ist, wollen Schäfer und ihre Kollegen beginnen, mit der Matrix ihrer Kunden zu arbeiten.
Offene Lieferkette: Medienproteine
Das israelische Start-up Aleph Farms und Wacker Chemie haben kürzlich eine Partnerschaft für die Entwicklung optimierter Produktionsprozesse für essenzielle Proteine von Wachstumsmedien geschlossen. Diese Proteine spielen eine zentrale Rolle im Produktionsprozess von kultiviertem Fleisch, da sie das Zellwachstum fördern und unterstützen. Bei der großtechnischen Herstellung von In-vitro-Fleisch stellen sie einen der wesentlichsten Kostenfaktoren dar. Ziel der Partnerschaft zwischen Aleph Farms und Wacker Chemie ist es, die Kosten für diese Proteine deutlich zu senken und den Qualitätsstandard sowie die Skalierung an die Lebensmittelindustrie anzupassen. Die Vereinbarung ist nicht exklusiv, sodass künftig jedes Unternehmen die Proteine zu erschwinglichen Preisen beziehen und so auf fetales Kälberserum oder tierische Bestandteile verzichten kann.