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Nachhaltige Beschaffung in der Lebensmittelindustrie

Soziale und wirtschaftliche Aspekte rücken in den Fokus
Nachhaltige Beschaffung

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Nachhaltigkeit ist aktuell einer der beherrschenden Trends der Lebensmittelindustrie: Unternehmen, ganze Industriezweige und Regierungen arbeiten auf ambitionierte Net-Zero-Ziele hin. Bislang haben sich diese Bemühungen größtenteils auf Umweltaspekte konzentriert. Dieser Fokus könnte sich jedoch verschieben.

Monique van de Vijver ist Innovation Manager Health bei der international tätigen Nichtregierungsorganisation Solidaridad und Nachhaltigkeitsexpertin. Für sie ist Nachhaltigkeit in der Lebensmittelindustrie überwiegend eine ‚grüne‘ Agenda. „Die Lebensmittelindustrie konzentriert sich bei diesem Thema hauptsächlich auf Initiativen oder Produkte, die sich mit ökologischen Aspekten wie dem Klimawandel, Entwaldung, Plastikverschmutzung und der Nutzung von Pestiziden befassen. Dies geschieht durch den Einsatz natürlicher und ökologischer Zutaten, den Verzicht auf Plastikverpackungen oder Verbesserungen der Ressourceneffizienz“, erklärt sie.

Während all diese Ansätze eine berechtigte Rolle spielen, ist ökologisches Handeln jedoch lediglich ein Aspekt der Nachhaltigkeit, wie van de Vijver erläutert: „Nachhaltige Entwicklung basiert auf drei Säulen: der sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Säule.“

In Zukunft erwartet van de Vijver, dass den beiden bisher „vernachlässigten“ Säulen ein höherer Stellenwert auf der Agenda der Lebensmittelindustrie zukommen wird, und dass künftige Strategien darauf ausgerichtet sein werden, alle drei Aspekte zu umfassen.

Gesetzgebung für mehr Nachhaltigkeit

Die Gesetzgeber werden den Rahmen für die Entwicklung in Richtung mehr Nachhaltigkeit vorgeben. Nach einem zweieinhalbjährigen Weg durch den Prozess der EU-Gesetzgebung wurde die Europäische Lieferkettenrichtlinie (Corporate Sustainability Due Diligence Directive, CSDDD) am 5. Juli 2024 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht. Diese wegweisende Gesetzgebung verpflichtet größere Lebensmittel- und Getränkeunternehmen dazu, Menschenrechts- und Umweltprüfungen entlang ihrer gesamten Lieferkette durchzuführen und sie für die Auswirkungen ihrer Aktivitäten zur Verantwortung zu ziehen. Moderne Sklaverei, Kinderarbeit, unzureichende Arbeitssicherheit und Ausbeutung von Arbeitern fallen alle in den Anwendungsbereich dieser Regelung.

Eng mit der CSDDD verbunden ist die EU-Verordnung über entwaldungsfreie Lieferketten (EUDR), die ab dem 30. Dezember 2024 gelten wird. Dieser gesetzliche Rahmen soll sicherstellen, dass bestimmte Erzeugnisse und Produkte, die in der EU gehandelt und konsumiert werden, nicht mehr zur Entwaldung beitragen. Das ist einerseits ein großer Schritt, um Produkte aus dem Lebensmittelsystem zu verbannen, deren Herstellung mit Entwaldung einhergeht. Die Verordnung legt andererseits auch Anforderungen an europäische Unternehmen fest, die Menschenrechtsverletzungen in den internationalen Lieferketten verhindern soll.

Umweltschäden sind untrennbar mit Armut verbunden

Diese beiden Verordnungen spiegeln auch wider, wie die drei Säulen der Nachhaltigkeit miteinander verflochten sind. Ohne einen ganzheitlichen Ansatz sind Lösungen in ihrer Wirkung immer begrenzt. „Die wirtschaftliche und die soziale Säule sind stark miteinander verbunden, denn es ist für Kleinbauern sehr schwierig, in vollem Umfang an der Wirtschaft teilzuhaben, Zugang zu Märkten zu erhalten, Kredite zu bekommen und einen angemessenen Preis für ihre Produkte zu erzielen“, sagt van de Vijver. „Wir wissen auch, dass viele ökologische Probleme durch Armut bedingt sind. Auch wenn es so aussehen mag, als hätten Bauern eine Wahl bei ihrer Art zu produzieren, sieht die Realität anders aus: Wenn man arm ist, hat man keine Wahl – man nimmt jede sich bietende Gelegenheit wahr und produziert so viel wie möglich zu den geringstmöglichen Kosten.“

„Viele Landwirte werden so zu Produktionsmethoden gedrängt, die den Einsatz von Agrochemikalien vorsehen und sich als schädlich für die natürlichen Ressourcen erwiesen haben. Das hat zu einem Verlust an Biodiversität und einer Verschlechterung der Bodenqualität geführt. In Kombination mit steigenden Inputkosten und anhaltend niedrigen und volatilen Preisen für die Erzeugnisse ist die Landwirtschaft für sie zu einem Verlustgeschäft geworden. Dadurch haben viele junge Menschen die Landwirtschaft vollständig aufgegeben. Aus diesem Grund ist der wirtschaftliche Aspekt der Nachhaltigkeit so wichtig, insbesondere für die Menschen, die ganz am Anfang der Lieferketten stehen.“

Seit das Schicksal von Kleinproduzenten und die daraus entstehenden Umweltschäden ins öffentliche Bewusstsein dringen, wächst der Handlungsdruck auf diejenigen, die diese Situation beeinflussen können. Dazu gehören auch Akteure weiter oben in der Lieferkette, nämlich Lebensmittel- und Getränkehersteller. Für diese wird die verantwortungsvolle Beschaffung von Zutaten zu einem Eckpfeiler einer wirkungsvollen Nachhaltigkeitsinitiative.

Die Herausforderungen: Groß, aber überwindbar

Selbst für Unternehmen mit den besten Absichten ist der Weg zu einer verantwortungsvollen Beschaffung von Zutaten voller Hürden. Eine davon ist der Mangel an Transparenz in den meisten Lieferketten, denn diese umfassen oft mehrere Zwischenhändler. „Die meisten Lebensmittel- und Getränkehersteller kaufen ihre Zutaten von einem Händler, der sie von einem Lieferanten bezieht, der sie oft wiederum von noch kleineren Zwischenhändlern kauft. Somit ist es für einen Käufer in Europa nur schwer nachvollziehbar, woher die Zutaten stammen. Das Einzige, was wirklich überprüfbar ist, ist die Qualität“, sagt van de Vijver. Eine weitere große Herausforderung besteht darin, dass die Kriterien Qualität und Preis die Verhandlungen über den Zutatenkauf dominieren. Daran und an bestimmte Preisniveaus habe sich der Markt gewöhnt, fügt sie hinzu.

Dies sind enorme Herausforderungen, denn im Wesentlichen handelt es sich um systemische Fehler, die in den globalen Marktkräften verankert sind. Doch van de Vijver lehnt es ab, diese als unüberwindbar zu betrachten. „Das Streben nach Wachstum durch Gewinn ist das vorherrschende Paradigma in unserem Lebensmittelsystem geworden, aber dieses wurde von Menschen konstruiert. Das bedeutet aber auch, dass wir in der Lage sind, es entsprechend zu verändern“, sagt sie. „Wir als Gesellschaft haben Geld an die erste Stelle gesetzt und dabei Mensch und Natur vernachlässigt, und am Ende kommt das wie ein Bumerang auf uns zurück. Es wird definitiv nicht einfach sein, aber wir müssen einige der Aspekte, denen wir ihren Wert abgesprochen haben, wieder neu bewerten.“

Die Situation nachhaltig verbessern

Aus jahrzehntelanger Erfahrung in der Umgestaltung von Lieferketten hin zu mehr Nachhaltigkeit hat die Organisation Solidaridad gelernt, dass eine Stärkung der Kommunikation über die gesamte Lieferkette hinweg der Schlüssel zur Veränderung ist. „Wir schaffen Multi-Stakeholder-Plattformen, um die Herausforderungen in einem vorwettbewerblichen Umfeld zu diskutieren. Die Landwirte verstehen dann die Anforderungen des Marktes und wissen, welche Qualität von ihnen erwartet wird. Die Hersteller und Käufer wiederum lernen, was die Landwirte benötigen, um ihre Praktiken zu ändern. Dies ermöglicht ihnen, gemeinsam Lösungen zu entwickeln“, erklärt van de Vijver.

Ein Beispiel für die Umsetzung in die Praxis ist die CO2-Handelsplattform „Acorn“, die gemeinsam von der Rabobank und Solidaridad eingerichtet wurde. Sie ermöglicht es Kaffeebauern, mittels Agroforstwirtschaft Geld für das Binden von Kohlenstoff zu erhalten. Diese Plattform verwendet Satellitensysteme und Algorithmen, um zu bestimmen, wie viel Kohlenstoff durch einzelne Betriebe gebunden wurde. „Dieses Programm ist für Hersteller und Landwirte gleichermaßen vorteilhaft. Der Hersteller erhält den Nachweis, dass seine Produkte nachhaltig erzeugt wurden, und der Landwirt wird für die Anwendung regenerativer Praktiken belohnt“, sagt van de Vijver.

Zertifizierungssysteme

Nachhaltigkeitszertifikate und -labels spielen eine bedeutende Rolle. Solidaridad war an der Entwicklung und Implementierung mehrerer dieser Systeme beteiligt, darunter UTZ Certified für Kaffee, Kakao und Tee, Bonsucro für Zuckerrohr, der Roundtable on Sustainable Palm Oil (RSPO) und der Round Table on Responsible Soy (RTRS). Allerdings weist van de Vijver darauf hin, dass Zertifizierungen nicht immer zu den gewünschten Effekten führen und teuer für die Beteiligten sind. „Zertifizierungen haben sich zu einem eigenen Geschäftszweig entwickelt“, sagt sie. Ein weiteres Problem solcher Systeme sei, dass sie die Abhängigkeit von einzelnen Nutzpflanzen, die einen sehr hohen Gewinn bringen, fördern. Das bringe eine Reihe von Nachteilen mit sich, wie eine erhöhte Anfälligkeit für Marktschwankungen oder extreme Wetterbedingungen, sowie negative Auswirkungen auf die Biodiversität, fügt sie hinzu.

Strategien nicht nur für Commodities

Die Bemühungen, Lieferketten nachhaltiger zu gestalten, konzentrierten sich bisher auf hochpreisige Erzeugnisse wie Kakao oder Kaffee sowie auf Palmöl und Soja. Van de Vijver betont jedoch, dass die Strategien zur Sicherstellung einer nachhaltigen Beschaffung genauso auf jede Zutat natürlichen Ursprungs anwendbar sind – auch auf solche, die für den Verbraucher weniger sichtbar sind. „Die Lieferketten mögen unterschiedlich sein, aber die Mechanismen im Hintergrund sind ähnlich. Wenn Hersteller sicherstellen wollen, dass ihre Zutaten nachhaltig sind, müssen sie bereit sein, an der Quelle zu investieren und langfristige, faire Einkaufsvereinbarungen abschließen.“

Ein Beispiel sind Pflanzenextrakte und Kräuter, die als Zutaten in funktionellen Lebensmitteln und Getränken sowie in Nahrungsergänzungsmitteln immer beliebter werden. Den wenigsten Verbrauchern ist bewusst, wie diese Zutaten angebaut und produziert werden, und welche sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Auswirkungen sie an der Quelle verursachen. Die meisten Verbraucher wüssten nichts über die Nachhaltigkeitsherausforderungen in diesen Lieferketten, so van de Vijver.

Doch selbst Palmöl sei lange Zeit eine ‚unsichtbare‘ Zutat gewesen, zumindest so lange, bis NGOs auf die damit verbundene Rodung und Abholzung aufmerksam machten. Die Expertin befürchtet, dass die steigende Nachfrage nach Botanicals schlechte Nachrichten für Produzenten und den Planeten bedeutet: „Sobald eine Pflanze zu einem Wirtschaftsgut wird, wird sie ‚ausgebeutet‘, dann geht die Verbindung zur Herkunft und zu ihrer natürlichen Umgebung verloren.“

Verbundenheit mit Menschen und der Natur

Sie fährt fort: „Es gibt den allgemeinen Trend in der Gesellschaft, dass wir Verbundenheit verlieren. Wir haben unsere Verbindung zur Natur verloren und wir verlieren unsere Verbindung zueinander. Wo es Verbundenheit gibt, gibt es Fürsorge und Respekt. Geht die Verbundenheit verloren, gehen auch diese Werte verloren. Deshalb glaube ich, dass es Initiativen braucht, die Verbindungen wiederherstellen.“

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Autor: Marcelo Brull

Sustainability Manager,

Informa Markets


Diskussionsplattform:   Fi Europe 2024

Eine gute Gelegenheit, das Thema „Nachhaltige Beschaffung“ zu diskutieren, bietet die Fachmesse Fi Europe vom 19. bis 21. November in Frankfurt. Hier treffen sich alljährlich Lebensmittel- und Getränkehersteller, Zutatenlieferanten, Start-ups, Investoren, Marktanalysten, Händler und Branchenverbände. Solidaridad ist Nachhaltigkeitspartner der Fi Europe und bringt Fachwissen zum Thema Nachhaltigkeit in Lieferketten ein. Die langjährige Partnerschaft zielt darauf ab, den Wissenstransfer und die Zusammenarbeit in diesen Märkten zu fördern und letztendlich Unternehmen zu befähigen, Zutaten ethisch und nachhaltig zu beziehen und gleichzeitig den Forderungen nach mehr Transparenz in der Lieferkette gerecht zu werden.

„Unsere Partnerschaft mit der Organisation Solidaridad ist Teil unseres anhaltenden Engagements für Nachhaltigkeit“, sagt Yannick Verry, Brand Director of Food Ingredients Europe & Americas. „Im Rahmen der Fi Europe und in den von uns zur Verfügung gestellten Inhalten heben wir nachhaltige Beschaffung, Transparenz, regulatorische Compliance mit viel Engagement immer wieder hervor.“

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