Vertikale Integration heißt das Schlüsselwort in der Prozessautomatisierung. Denn eine durchgängige Kommunikation vom Sensor bis hin zum Internet eröffnet den Anlagenbetreibern Möglichkeiten für mehr Effizienz, Flexibilität und damit Wettbewerbsfähigkeit. Gleichzeitig entstehen aber auch neue Herausforderungen bezüglich des Schutzes der Prozesse gegen unerlaubte Zugriffe.
Dipl.-Ing. Rolf-Dieter Sommer
Eine aktuelle Studie des Verbandes deutscher Maschinen- und Anlagenbauer (VDMA) bestätigt die zunehmende Verbreitung von Datennetzen in der Verfahrenstechnik. Ob die Prozessdaten mit einem der etablierten Feldbusse oder mit einer industrietauglichen Variante von Ethernet übertragen werden, ist von einer Vielzahl von Gesichtspunkten abhängig. Die überwiegende Mehrzahl der im Rahmen der VDMA-Studie befragten Unternehmen setzten nicht auf ein einziges Bussystem, sondern benutzen zwei oder mehr Systeme. Dies hängt damit zusammen, dass an die Leistungsfähigkeit der Datenverbindungen in den verschiedenen Teilen der Anlage ganz unterschiedliche Anforderungen gestellt werden. Für die prozessnahen Komponenten steht die Verlässlichkeit und Echtzeitfähigkeit der Datenübertragung unter rauen Betriebsbedingungen im Vordergrund. In der Leitwarte geht es hingegen um große Datenmengen und anlagenübergreifende Kommunikation unter Bürobedingungen.
Wirtschaftlichkeit ist der Maßstab
Trotz der vielfältigen Anforderungen und der rasanten Entwicklung der technischen Möglichkeiten gilt aber nach wie vor, dass der alleinige Maßstab für jede technische Lösung der dauerhafte Nutzen für den Betreiber ist. Aus diesem Grund finden wir heute in chemischen Anlagen Datennetzwerke, die jeweils auf ihre Kommunikationsaufgaben technisch und wirtschaftlich optimiert sind. Dies verdeutlicht die bekannte Kommunikationspyramide mit ihren unterschiedlichen Schichten und technischen Lösungen. Die Pyramidenform unterstreicht, wie von der breiten Basis mit vielen Ein- und Ausgabepunkten im Prozess die Informationen immer mehr verarbeitet und verdichtet werden. Dies bedeutet, dass die Anforderungen an die Geräte jeder Schicht anders sind. Außerdem nimmt üblicherweise die Zahl der Kommunikationsgeräte zur Spitze der Pyramide hin ab.
Diese hierarchische Struktur hat vielfältige technische und wirtschaftliche Gründe. Die Daten der Prozessebene sind kurz, z. B. bei einem Näherungsschalter nur ein Bit, sie kommen von räumlich verteilten Stellen, und sie müssen an der Steuerung sehr schnell zur Verfügung stehen. Wirtschaftlich spielt hier der Preis pro Ein/Ausgabe-Punkt aufgrund der großen Menge an Datenpunkten eine entscheidende Rolle. In dieser Schicht bestehen zudem die höchsten Umgebungsanforderungen. Beispielsweise sind Devicenet- und Profibus-PA- Geräte der Prozessebene robust und wassergeschützt in IP 65 oder IP 67 ausgeführt. Für den Einsatz in explosionsgefährdeter Umgebung sind entsprechende Zulassungen nach Atex oder UL Voraussetzung.
Die Kontrollebene ist die Domäne der speicherprogrammierbaren Steuerungen. Diese kommunizieren untereinander und mit der unterlagerten Ebene über schnelle, echtzeitfähige Feldbusse wie z. B. Profibus DP, Geniusbus oder Controlnet. Zur Pyramidenspitze hin, wo die Übermittlungszeit der Daten für den Prozess unkritischer wird, sind die Steuerungen über Ethernet an PC-gestützte Leitwarten angebunden. Und oberhalb der Kontrollebene sind wegen der großen Datenmengen heute Gigabit-Backbones installiert. Welche Chancen bietet nun das in der Leitebene dominante Ethernet für die Kommunikation in den unterlagerten Schichten?
Internetfähigkeit dank Ethernet
In den meisten Anlagen ist heute schon eine Ethernetinstallation vorhanden, nur ist diese gewöhnlich von den Prozessdaten getrennt. Dies schützt den Prozess zwar gegen unerwünschte Zugriffe, verhindert aber andererseits z. B. eine kostengünstige Fernwartung über das Internet. Viele speicherprogrammierbare Steuerungen verfügen bereits über einen Anschluss zur Anbindung an das Intranet des Betreibers. Über diese Schnittstelle ist in der Regel aber nur ein Beobachten und Bedienen des Prozesses möglich, die Prozessdaten selbst werden über die Feldbusanschlüsse der Steuerung geführt.
Bedienen und Beobachten ist aber ein wichtiger Schritt zur vertikalen Integration, die den Prozess über Web-Technologien für das Internet zugänglich macht. Fernwartung ohne den Umweg über langsame Modems wird so wesentlich effizienter und komfortabler. Kostenvorteile entstehen zudem aus der Durchgängigkeit der Daten. Die Kopplung zu überlagerten Manufacturing-Execution-Systemen (MES) und Enterprise-Resource-Planning-Systemen (ERP) ermöglicht etwa dem Einkauf, aus aktuellen Füllstands- und Verbrauchsinformationen von Tanks die kostenoptimalen Bestelldaten von Rohstoffen zu ermitteln.
Die Hauptvorteile Durchgängigkeit und Internet-Anbindung erkauft sich der Anlagenbetreiber allerdings mit der Notwendigkeit, seinen Produktionsbereich nach außen abzuschotten. Gerade hier gibt es indessen Bedenken bei manchen Anlagenverantwortlichen, denn Internet wird mit Viren und anderen Risiken in Verbindung gebracht. Diesen Gefahren kann man jedoch mit Firewalls und speziell für den Einsatz im industriellen Umfeld ausgelegten Security-Routern erfolgreich begegnen.
Echtzeit und Redundanz
Klassische Feldbusse benötigen grundsätzlich keine Firewalls oder ähnliche Sicherheitsvorkehrungen. Ebenso wenig erfordern sie spezielle Maßnahmen, um die bei Ethernet mit verschiedenen Protokollen seit langem angestrebte Echtzeitfähigkeit zu erreichen. An den notwendigen Standardisierungen wird zur Zeit mit allem Nachdruck von verschiedenen Organisationen gearbeitet. Zu den Wichtigsten zählen die Profibus Nutzer Organisation (PNO), die Open DeviceNet Vendor Association (ODVA), die Ethernet Powerlink Specification Group (EPSG), die Ethercat Technology Group (ETG), die Interest Group Sercos Interface (IGS) und Modbus IDA.
Mit der Echtzeitthematik ist auch die Redundanz des Datennetzes verknüpft. Feldbusse sind für kritische Prozesse mehrfach ausgelegt, und die Busteilnehmer schalten im Fehlerfall sehr schnell, d. h. für die Applikation unbemerkt auf die Ersatzverbindung um. Bei Ethernet erreichen selbst Rapid Spanning Tree oder Ringstrukturen diese Rekonfigurationszeiten noch nicht. Für einen unterbrechungsfreien Betrieb der Anlage streben die Hersteller von Ethernet-Switchen Rekonfigurationszeiten von unter 50 ms an. Welche Standards sich im Industriebereich letztlich durchsetzen, wird vermutlich nicht durch die Technik, sondern das Marketing der großen Automatisierungshersteller entschieden. Gute Chancen haben das von Siemens und der PNO unterstützte Profinet sowie das von der ODVA forcierte Ethernet/IP in Verbindung mit dem Common Industrial Protocoll (CIP) von Rockwell Automation.
Ex-Zulassungen sind gefragt
Zu den branchenspezifischen Betriebsbedingungen der Chemie gehört oftmals auch der Explosionsschutz. Leistungsfähige Netzkomponenten müssen deshalb zwingend über Zulassungen für die entsprechenden Explosionsschutzzonen nach Atex RL 96/9 EU oder UL 1604 verfügen. Zur Datenanbindung der Switche oder Feldbus-Repeater eignen sich am besten Lichtwellenleiter, da diese naturgemäß keine Funken erzeugen können. Ethernet-Switche und Feldbus-Repeater mit Zulassungen bis Zone 1 für Gasatmosphären und Zone 21 für explosive Stäube werden heute bereits angeboten.
Die Technik steht also bereit. Ohne die Beachtung verschiedener organisatorischer Randbedingungen bleibt aber der notwendige Nutzen aus. So müssen aufgrund der Öffnung des Netzes Firewalls mit Filterregeln installiert sein. Diese Regeln dürfen nicht zu eng gefasst sein, um die Kommunikation nicht zu blockieren oder unzulässig zu verzögern. Auch die Zugangsberechtigungen sollten praxisgerecht geregelt sein. Denn das Bedienpersonal muss zu jeder Zeit garantierten Zugriff auf das Leitsystem haben. Zum Beispiel ist das Sperren eines Operators wegen Inaktivität – wie etwa beim Online-Banking – und die nachfolgende Aufforderung zum erneuten Einloggen mit Name und Passwort untauglich, weil in kritischen Situationen eine sofortige Reaktion ohne Zugriffshürden notwendig ist. Hier wird deutlich, dass Einfachheit bei Betrieb und Wartung unverzichtbar ist. Denn das Anlagenpersonal besteht meistens nicht aus IT-Experten. Zudem erfordern Anlagenlaufzeiten von mehr als zehn Jahren auch eine gewisse Konstanz des Leitsystems und der installierten Software. In der IT-Welt übliche Patches und häufige Software-Updates sind mit der Forderung nach einer Anlagenverfügbarkeit rund um die Uhr nicht vereinbar.
Zukünftige Entwicklungen
Wie werden die Datennetze in Chemieanlagen zukünftig aussehen? Bezogen auf die nächsten fünf Jahre zeichnet sich ab, dass Ethernet mit rasanter Geschwindigkeit auf die Prozessebene vordringen wird. Für die auf dieser Technologie basierenden Übertragungsprotokolle werden im gesamten Industriebereich jährliche Zuwachsraten von über 30 % erwartet, was die wachsende Bedeutung der Datenvernetzung widerspiegelt. Die wesentliche Triebkraft für Ethernet ist die Durchgängigkeit und damit die Öffnung der Prozesse für Web-Technologien. Diese Öffnung bewirkt einen Schub für die Automatisierung insgesamt. Ethernet wächst zwar prozentual weit stärker als die etablierten Bussysteme, dennoch bleiben Profibus, Fieldbus Foundation und Devicenet die mit Abstand dominierenden Busse. Sie haben die bei Weitem größte installierte Basis, und weisen wohl auch in Zukunft stabile Wachstumsraten im zweistelligen Prozentbereich pro Jahr auf. Eine Marktsättigung ist nach Einschätzung von Experten in den nächsten fünf Jahren nicht zu erwarten.
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