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Zukunft der Instandhaltung

Lässt sich Fingerspitzengefühl digitalisieren?
Zukunft der Instandhaltung

Es könnte so einfach sein: Eine Anlage instand zu halten bedeutet, ihren funktionsfähigen Zustand durch die richtigen Maßnahmen zu sichern. Doch in Zeiten von Digitalisierung, Kosteneffizienz und hohem Wettbewerbsdruck spielen viele Faktoren eine Rolle. Das Ziel: Instandhaltung 4.0. Hierfür steht die Prozessindustrie vor der großen Herausforderung, Erfahrungswissen mit Messwerten und Daten zu verheiraten.

Früher ging der Mechaniker bei Wind und Wetter durch die Anlage. Ein anstrengender Beruf, gleichzeitig aber verantwortungsvoll, denn die Funktionsfähigkeit der Anlage hing von diesem Mitarbeiter ab. Sein Wissen, seine Kenntnis der Anlage war es, die bei großen und kleinen Betriebsunregelmäßigkeiten schnell zur Wiederherstellung des produktiven Zustands führte. Und heute? Heute sind Chemieanlagen deutlich komplexer, die Menge der Baugruppen und Bauteile die ausfallen könnten, hat zugenommen. Längst schon reicht es nicht mehr aus, mit dem Schraubenschlüssel in der Hand die Anlage regelmäßig zu inspizieren.

Dabei ist in der chemischen Industrie eine suboptimale Instandhaltung nicht nur gleichbedeutend mit kostspieligen Stillstandzeiten, sondern vielmehr eine Frage der Sicherheit für Mensch und Umwelt. Durch eine gute Instandhaltung lässt sich die Betriebssicherheit verbessern, die Lebensdauer der Prozessanlage verlängern und die Anlagenverfügbarkeit durch effizient geplante und optimierte Betriebsabläufe einschließlich der geplanten Wartungsstillstände maximieren. Instandhaltung ist nach DIN-Norm DIN 31051 in vier Grundmaßnahmen strukturiert: Wartung, Inspektion, Instandsetzung, und Verbesserung. Die DIN EN 13306 unterscheidet hingegen nur noch zwischen vorbeugender und korrektiver Instandhaltung.

Vorbeugende Instandhaltung

In den 90ern galt die vorbeugende Instandhaltung als Stand der Technik. Hier wurden die Prozessanlagen nach Schwachstellenanalysen und dem Auswerten der Maschinendaten geplant heruntergefahren. In vorab definierten Zeitfenstern wurden Bauteile gewartet oder ausgetauscht, um unvorhergesehene Störungen zu verhindern. Unnötige Kosten verursachte diese Methode deshalb, weil häufig auch Bauteile getauscht wurden, die noch funktionsfähig waren. In den Folgejahren wurden verschiedene Konzepte zur Instandhaltung diskutiert: ausfallorientierte, vorbeugende oder zustandsorientierte Instandhaltung. Die Anlagenbetreiber stellten sich außerdem vielfach die Frage: Instandhaltung outsourcen oder lieber das Know-how inhouse belassen?

Heute sehen sich die Anlagenbetreiber auch in der Instandhaltung mit dem Thema Industrie 4.0 konfrontiert: Die Menge der zur Verfügung stehenden Daten als Basis für eine kostenoptimierte Instandhaltung nimmt massiv zu. Der Trend zur Digitalisierung mündet für die chemische Industrie unter anderem im sogenannten digitalen Zwilling einer Prozessanlage, der künftig eine kostenoptimierte Instandhaltung unterstützen soll.

Digitaler Zwilling und digitaler Assistent

Ein digitaler Zwilling ist ein virtuelles Modell einer Prozessanlage, das die reale und virtuelle Welt verbindet. Digitale Zwillinge verwenden reale Daten der im Prozess installierten Sensoren, zum Beispiel Temperatur, Durchfluss, Füllstand und Druck. Im digitalen Zwilling werden virtuelle und reale Welt gekoppelt. So können dort Daten analysiert und die gesamte Anlage überwacht werden. Unzulässige Betriebszustände lassen sich schon in der Entstehung verstehen und verhindern. Außerdem hilft ein digitaler Zwilling als digitaler Assistent ganz konkret dem Mitarbeiter in der Anlage.

Das Fraunhofer Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung IFF zeigte auf der diesjährigen Hannover Messe solch ein Augmented-Reality-Assistenzsystem für die Instandhaltung, das auf dem digitalen Datenabbild der Anlage basiert. Die virtuelle Welt bietet via Tablet oder Brille Zugriff auf die Dokumentation und die Zustandsdaten der Anlage. Das Datenmodell der Anlage informiert bei Störungen und hilft mit Erfahrungswissen – sofern dieses eingepflegt wurde. Dem Träger einer Mixed-Reality-Brille werden beim Blick auf die Anlage beispielsweise der aktuelle Betriebszustand einer installierten Pumpe angezeigt oder der verbleibende Abnutzungsvorrat prognostiziert. Bei Störungen können interaktive Handlungsempfehlungen aufgerufen werden. Videobasierte Anleitungen für die Werker sind eine weitere Anwendungsmöglichkeit dieser nicht ganz neuen, aber immer ausgereifteren Technologie.

Der digitale Zwilling der Anlage entsteht im Idealfall direkt im Engineeringprozess. Doch das Fraunhofer IFF hat auch Lösungen zum nachträglichen Bereitstellen digitaler Zwillinge für Bestandsanlagen entwickelt. Wichtig ist hierbei, dass sich die Lösungen mit den Digitalisierungsansprüchen der Unternehmen erweitern lassen. Neben dem Fraunhofer Institut IFF bietet zum Beispiel auch Bilfinger Maintenance das auf der Achema vorgestellte Tool Pidgraph an, das basierend auf R&I-Schema eine Anlage digitalisieren kann. Das Tool soll ab Ende des Jahres verfügbar sein.

Das Ziel ist Predictive Maintenance

Um eine vorausschauende Wartung kostenoptimiert betreiben zu können, ist es erforderlich, sehr große Datenmengen strukturiert zu erfassen und richtig zu interpretieren. Daher lässt sich diese Art der Instandhaltungsstrategie deutlich von der reaktiven oder präventiven Wartung abgrenzen. Die präventive Wartung basiert auf Daten der Vergangenheit, während die Predictive Maintenance Daten nutzt, die in Echtzeit eingespeist werden oder durch Simulation gewonnen wurden. Auf Basis dieser Daten werden zukünftige Instandhaltungsmaßnahmen festgelegt. Zum Optimieren der Kosten und wirksamen Verhindern von Störungen ist es wichtig, den optimalen Zeitpunkt für die jeweilige vorausschauende Wartungsmaßnahme zu finden.

Im Forschungsprojekt Sidap unter Federführung der Technischen Universität München wird untersucht, inwieweit aus den großen Datenmengen einer Anlage sinnvolle Zusammenhänge aufgespürt, und wie darauf basierend neue Instandhaltungsstrategien entwickelt werden können. Dabei sollen auch Module entwickelt werden, die Expertenwissen einbinden. „Die Interaktion zwischen datengetriebenen Modellen und dem Menschen spielt eine enorme Rolle“, erklärt Prof. Dr. Birgit Vogel-Heuser, TU München, eine
der Lektionen aus dem Sidap Projekt. „Das bisherige Ziel datengetriebener Analysen bestand meist darin, aus den Daten ein
Ergebnis zu ermitteln und dieses auszugeben. In Zukunft müssen Modelle und Analyse mit dem Benutzer interagieren und auf benutzerspezifische Anforderungen reagieren.“ Solche kontextsensitive Analysen ermöglichen zum einen das Wissen des Benutzers miteinfließen zu lassen und zum anderen die Ergebnisse effizient in Information umzuwandeln. Dazu ist natürlich eine geeignete Visualisierung notwendig. Denn es hat sich im Laufe
des Forschungsprojekts herausgestellt, dass viele erkannte Fehler zwar durch Angaben in der Instandhaltung bestätigt werden konnten, aber auch, dass ein relativ hoher Prozentsatz an Fehlalarmen durch Anlagenanomalien oder instationäre Betriebsbedingungen ausgelöst wurde. Im Praxisbetrieb würden solche Fehlalarme das Vertrauen der Mitarbeiter in das System sehr schnell schwinden lassen.

Menschliches Wissen bewahren

Heute ist eine erfolgreiche Fehlersuche ohne digitale Unterstützung meist das Resultat aus Erfahrung, Fachwissen und der Kenntnis um die „Aktionen“ der Anlage vor dem Fehler. Denn auch wenn der Trend eindeutig Richtung Digitalisierung geht, so können noch so viele Daten und Algorithmen derzeit noch nicht das Wissen der Mitarbeiter ersetzen, die eine Anlage seit vielen Jahren betreuen und deren „Herzschlag“ spüren. Doch die Fluktuation der Mitarbeiter nimmt zu, eine ganze Generation an Werkern steht kurz vor dem Ruhestand, Nachwuchskräfte fehlen vielerorts. Die Angst vor dem Verlust dieses Know-hows ist ein wichtiger Treiber für die Digitalisierung in der Instandhaltung.

Die Herausforderung für die Instandhaltung der Zukunft wird sein, das angesammelte Fachwissen, die Erfahrung der Mitarbeiter in die Dokumentation aufzunehmen und in digitaler Form der Software zur Verfügung zu stellen. Dazu ist es wichtig, die Techniker in der Anlage von der Bedeutung ihres Wissens und einer guten Dokumentation desselben zu überzeugen. Ebenso wichtig ist es, sie den Nutzen dieser Dokumentation für die praktische Arbeit erleben zu lassen und sie so zu motivieren.

Im Rahmen des VDI-Forums Instandhaltung im Mai 2018 hat Stefan Palkoska, Senior Manager bei Ernst & Young GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft, von seinen Erfahrungen bei der Umsetzung eines Projekts zur predictive Maintenance berichtet. Eine wichtige Rolle spiele dabei die Kommunikation der Beteiligten untereinander. Schlüssel zum Erfolg, so seine Erfahrung, sei eine gute und klare Moderation zwischen den „Parteien“ Instandhaltung und Datenanalyseexperten. Denn sowohl die Sprache als auch die Herangehensweise an Aufgabenstellungen der „Industrial Natives“ und der „Digital Natives“ sind sehr unterschiedlich. „Um die Menschen zu motivieren, ist eine offene Kommunikation das Wichtigste. Es geht darum, Verständnis zu schaffen, für die Arbeitsweise der unterschiedlichen Fachabteilungen. Der Erfolg eines Projekts steht und fällt damit, wie gut die beiden Parteien der Industrial und der Digital Natives zusammen arbeiten können”, erklärt Palkoska.

Wachsender Markt Instandhaltung

Für die Instandhaltung bedarf es Technologien, die sehr große Datenmengen sinnvoll miteinander in Bezug setzen, um aus den Ergebnissen Handlungsempfehlungen abzuleiten. Weitere Ansätze für die Instandhaltung sind Module, die Expertenwissen zur Fehlerbewertung heranziehen und selbstlernende Systeme. Auch diese müssen zuvor mit sehr vielen Daten trainiert werden. Die Daten und Messwerte kommen aus sehr unterschiedlichen Quellen: aus Produktionsplanungssystemen, den Sensoren an der Anlage, aus der Qualitätssicherung und einzelnen Aggregaten im Prozess, aus Lager, Einkauf und Wartungsdokumentation. Vielfach müssen für sinnvolle und zuverlässige Ergebnisse weitere Sensoren in der Anlage nachgerüstet werden, was derzeit noch mit einem hohen Aufwand verbunden ist. Solche inhomogenen Datenflüsse zu standardisieren und richtig zu interpretieren bedarf einer speziellen IT-Technologie und spezifischen Know-hows. Die Frage, inhouse instandhalten oder outsourcen und einen Dienstleister mit ins Boot zu nehmen, stellt sich somit für kleine und mittlere Unternehmen in Zukunft wohl nicht mehr.

Daher wird dem Markt für Predictive Maintenance ein sehr hohes Wachstum vorhergesagt: Laut einer Analyse von IoT Analytics haben Unternehmen aus der ganzen Welt im Jahr 2016 rund 1,5 Mrd. US$ für Technologien im Bereich der vorausschauenden Instandhaltung ausgegeben. Im Jahr 2018 sollen sich die Investitionen auf zirka
3,0 Mrd. US$ und im Jahr 2022 auf fast 11 Mrd. US$ belaufen. Sollten diese Vorhersagen eintreffen, würde der Markt für Predictive Maintenance im Durchschnitt pro Jahr um 39 % wachsen.

Die Kunst für die Anlagenbetreiber wird sein, selbst zu beurteilen inwieweit und mit welchem Aufwand sich das Fingerspitzengefühl ihrer Mitarbeiter digitalisieren lässt. Gewonnen hat in diesem Spiel, wer die richtige Balance zwischen Mensch, IT und Kosten findet.

www.prozesstechnik-online.de

Suchwort: cav1018instandhaltung


Autorin: Christine Koblmiller

Fachjournalistin


Prof. Dr. Birgit Vogel-Heuser, Technische Universität München, Lehrstuhl für Automatisierung und Informationssysteme
Bild: TU München

Nachgefragt:   Was die Chemische Industrie aus Sidap lernen kann

Im Forschungsprojekt Sidap wird dem Expertenwissen eine große Bedeutung zugemessen. Warum reichen die Daten aus einer Prozessanlage alleine nicht aus?

Prof. Dr. Vogel-Heuser: Die Daten, die wir bisher aus den Anlagen gewinnen, erzählen nur einen Teil der Realität. Häufig fehlen wichtige Prozessgrößen oder Informationen zur Auslegung, Wartungsberichte liegen häufig nur in Papierform vor. Weiterhin treten z. B. beim konkreten Anwendungsfall einer Ventildiagnose sehr komplexe physikalische Phänomene wie Kavitation und Erosion auf. Diese Phänomene auf physikalischer Ebene korrekt zu beschreiben, ist bereits sehr anspruchsvoll, sie aus den bisher vorhandenen Daten korrekt zu extrahieren nahezu unmöglich. Wir betrachten zwar eine riesige Menge an Daten, betrachtet man aber die für die Datenanalyse relevanten aufgezeichneten Fehler von Ventilen, wird einem schnell klar, dass datengetriebene Analysen hier alleine nicht zielführend sind. Durch eine Kombination datengetriebener Analysen mit dem bereits vorhandenen Expertenwissen lässt sich die notwendige Datenmenge für die Analyse massiv verringern. So können wir auch auf Basis der vorhandenen Daten bereits sinnvolle Analysen durchführen, was sonst schlicht nicht möglich wäre.

Gibt es eine grundlegende Erkenntnis aus dem Forschungsprojekt?

Prof. Dr. Vogel-Heuser: In der Theorie haben wir alle Dinge zusammen, jedoch hapert es noch bei der praktischen Umsetzung. Die vorhandene Sensorik reicht für Diagnosezwecke oftmals nicht aus, das Nachrüsten ist oft mit enormem Aufwand verbunden. Hier benötigen wir zukunftsfähige Konzepte zur gezielten Nachrüstung von Bestandsanlagen. Aber auch den Wartungsprozess selbst müssen wir digitalisieren, um die Informationen aus der Vergangenheit direkt bei der Diagnose nutzbar zu machen. Wir mussten feststellen, dass gerade hier ein Großteil der wertvollen Informationen aufgrund von Dokumentation auf Papier und schlechter Kommunikation zwischen den verschiedenen Akteuren verloren gehen.

Und selbst dann sieht ein einzelner Betreiber nur einen kleinen Ausschnitt der Wahrheit – nur durch die Kombination verschiedener Datensätze und der Zusammenarbeit zwischen mehreren Betreibern von mehreren Anlagen, Herstellern und Datenanalysten lässt sich das wahre Potenzial heben.

Wie kann sich nun ein kleines oder mittleres Unternehmen auf Predictive Maintenance vorbereiten?

Prof. Dr. Vogel-Heuser: Man sollte versuchen, alle relevanten Informationen möglichst schon jetzt strukturiert und systematisch zu speichern. Das kann eine spätere Analyse deutlich vereinfachen. Hierfür muss man sich Gedanken machen, welche Daten später relevant werden, welche fehlen und wie man den Prozess zur Erhebung dieser gegebenenfalls schon jetzt anpassen kann. Bei anstehenden Nachrüstungen sollte man zusätzliche Sensoren direkt in Betracht ziehen. Die Daten müssen nicht unbedingt ins Prozessleitsystem, sind aber für spätere Analysen enorm wertvoll.

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