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Katherina Reiche: Die Weichen müssen dringend gestellt werden

Katherina Reiche, Vorsitzende des Nationalen Wasserstoffrates, im Interview
Die Weichen müssen dringend gestellt werden

Das Jahr 2024 sieht Katherina Reiche als entscheidendes Jahr für die Energiewende. Es gehe nicht nur darum, von fossilen auf erneuerbare Energien umzusteigen. Notwendig sei auch eine Wende der Infrastruktur, der Rohstoffversorgung und der Investitionen. „Und die Weichen für diese Wenden müssen dringend gestellt werden“, sagte die Vorsitzende des Nationalen Wasserstoffrates im Interview mit unserer Kollegin Jasmin Qaud-Taher.

Frau Reiche, als Mitglied des Nationalen Wasserstoffrats (NWR) begleiten und beraten Sie und Ihre Ratskolleginnen und -kollegen den Staatssekretärsausschuss für Wasserstoff bei der Weiterentwicklung und Umsetzung der Nationalen Wasserstoffstrategie (NWS). Ziel der NWS, die im Jahr 2020 von der Bundesregierung verabschiedet wurde, ist es, Deutschland zum führenden Ausrüster moderner Wasserstofftechnologien zu machen. Die Anwendung des grünen Wasserstoffs soll dabei sowohl in der Stahl- und Chemieindustrie als auch im Wärme- und Verkehrsbereich liegen. Sind wir Ihrer Meinung nach in Deutschland mit unserer Nationalen Wasserstoffstrategie (NWS) auf dem richtigen Weg?

Katherina Reiche: Wir befinden uns auf dem richtigen Weg, müssen diesen Weg aber wesentlich mutiger, schneller und pragmatischer gehen.

Was meinen Sie damit?

Reiche: Tatsächlich war die Überarbeitung der NWS wichtig und längst überfällig, denn Wasserstoff ist keine Gelegenheit, sondern eine Notwendigkeit: Für die industrielle Produktion, die Prozesswärme, den Verkehrssektor und für Wasserstoff-Kraftwerke. Die Fortschreibung der NWS greift wichtige Punkte auf: die ausreichende Verfügbarkeit von Wasserstoff, die Schaffung einer leistungsfähigen Infrastruktur, die Etablierung der entsprechenden Anwendungen. Jetzt muss es zügig an die konkrete Umsetzung gehen. Dabei sollten wir uns davon verabschieden, ausschließlich auf Leuchtturmprojekte zu setzen, sondern die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle und ganzer Wasserstoff-Wertschöpfungsketten in Industrie und Mittelstand vorantreiben – mit besseren Bedingungen für Investitionen sowie einer breiteren Förderung bei Forschung und Entwicklung.

Die Bundesregierung setzt primär auf Elektrifizierung. Wir sehen das beispielsweise an der intensiven Förderung der E-Mobilität. Die Brennstoffzelle für wasserstoffbetriebene Fahrzeuge – vor langer Zeit als Zukunftstechnologie gepriesen – scheint inzwischen in Vergessenheit geraten zu sein. Ist es der richtige Weg, vorwiegend auf grünen Strom zu setzen?

Reiche: Eine solche Vorfestlegung erschwert immer den schnellen Aufbau neuer Märkte. Sowohl Brennstoffzellenanwendungen als auch Wasserstoffverbrennungsmotoren können die Treibhausgasemissionen im Verkehrssektor reduzieren. Allein im Bereich Mobilität geht der NWR für das Jahr 2030 von einem klimaneutralen Wasserstoffbedarf von mindestens 30 TWh aus. Wesentlicher Treiber ist der Schwerlastverkehr mit 17 TWh, der Bedarf an Syntheseprodukten für Schiff- und Luftfahrt sowie für E-Fuels liegt bei 10 TWh. Nicht zuletzt getrieben von noch anspruchsvolleren CO2-Reduktionszielen ab 2030 wird der Bedarf an Wasserstoff im Mobilitätssektor bis 2035 nochmals drastisch zunehmen. Wir brauchen also Technologieoffenheit. Gleiches gilt im Übrigen für die Industrie. Auch hier gibt es nicht den einen Lösungsweg. Die Industrie und der industrielle Mittelstand sind auf eine zuverlässige Versorgung mit Prozesswärme angewiesen. Dabei geht es nicht nur um große Stahl- und Chemieunternehmen, sondern auch um mittelständische Papierfabriken, die Zement- und Glasindustrie sowie die Fliesen-, Zink- und Ziegelbranche. Eine Elektrifizierung der Prozesse ist hier häufig unmöglich oder zumindest unwirtschaftlich, eine Umstellung auf Wasserstoff als Prozessgas ist daher meist die einzige Option hin zu einer CO2-neutralen Produktion.

Wo sehen Sie die größten Herausforderungen bei der Energiewende auf uns zukommen?

Reiche: Genau genommen haben wir es mit mehreren Wenden zu tun, die gleichzeitig passieren und miteinander verbunden sind. Bei der Energiewende geht es nicht nur darum, von fossilen Brennstoffen auf erneuerbare Energien umzustellen. Wir müssen gleichzeitig die Infrastruktur umbauen, unsere Rohstoffversorgung anpassen, global neue Beziehungen knüpfen und Investitionen anlocken. Mit anderen Worten: Die multiple Krise erfordert eine multiple Wende. Das macht es so herausfordernd; zumal die Zeit drängt. Die nächsten Jahre entscheiden darüber, ob Deutschland und Europa wettbewerbsfähig bleiben – oder international den Anschluss verlieren.

Wissen Sie, quasi als Insiderin, welche Maßnahmen die aktuelle Bundesregierung plant, um den Wasserstoff-Markthochlauf zu beschleunigen?

Reiche: Für den Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft braucht es erstens eine Importstrategie. Das Bundeswirtschaftsministerium hatte sie bereits für das Jahr 2023 angekündigt, derzeit steht sie noch aus. Im Energiesystem der Zukunft leisten brennstoffbasierte, flexible Kraftwerke einen wichtigen Beitrag zur System- und Versorgungssicherheit. Aufgrund der langen Vorlaufzeiten für Planung, Genehmigung und Bau der Kraftwerke müssen die ersten Ausschreibungen zwingend im ersten Halbjahr 2024 erfolgen. Darüber hinaus ist diese Strategie zentral, damit ausreichend Wasserstoff und dessen Derivate wettbewerbsfähig verfügbar sind.

Der Nationale Wasserstoffrat prognostiziert für ganz Deutschland bis zum Jahr 2030 Elektrolyseure mit einer Gesamtleistung von 23 bis 39 Gigawatt. Um damit grünen Wasserstoff zu elektrolysieren, bräuchten wir entsprechend viel grünen Strom. Woher sollen wir diesen nehmen?

Reiche: Deutschland ist da schon einen Schritt vorangekommen. Im vergangenen Jahr deckten die erneuerbaren Energien erstmals mehr als die Hälfte des Stromverbrauchs. Aber das reicht natürlich noch nicht. Die Bundesregierung geht für 2030 von einem Strombedarf von rund 750 TWh aus, 80 % davon sollen die Erneuerbaren decken. Es muss also in den vor uns liegenden acht Jahren mehr als das Doppelte von dem geschafft werden, was in den vergangenen 15 Jahren erreicht wurde. Doch das gelingt nur, wenn Deutschland Genehmigungs- und Planungsprozesse beschleunigt, die Stromnetze synchron ausbaut und digitalisiert sowie dem Fachkräftemangel entgegenwirkt.

Wie hoch ist der Wasserstoffbedarf, den der Nationale Wasserstoffrat für die nächsten Jahre vorhersagt?

Reiche: Ohne Wasserstoff werden viele Branchen nicht CO2-neutral produzieren – insbesondere solche, in denen die Elektrifizierung schwierig ist, wie bei der Stahlerzeugung oder in der Chemieindustrie. Auch der straßengebundene Schwerlastverkehr, der Flugverkehr oder der Schiffs- und Schienenverkehr sind auf Wasserstoff und seine Derivate angewiesen. Außerdem brauchen wir Wasserstoff, um Dunkelflauten mit wenig Wind und Sonne zu überstehen. Insgesamt rechnet die Bundesregierung für 2030 mit einem Bedarf von bis zu 3,9 Mio. t. Aber klar ist schon heute: Diese Mengen wird Deutschland nicht selbst produzieren können.

Sondern?

Reiche: Neben der inländischen Produktion sind wir mittel- bis langfristig auf Wasserstoffimporte angewiesen. Bis zum Jahr 2045 werden wir bis zu 80 % des Wasserstoffs importieren – bei Derivaten wie Methanol oder Ammoniak sogar mehr als 80 %. Deshalb ist es so wichtig, zeitnah die entsprechende Infrastruktur aufzubauen und langfristige Importpartnerschaften zu schließen. Das bestätigt auch eine jüngst veröffentlichte Studie im Rahmen des Projekts HySupply von Acatech und BDI. Darin wurde die Machbarkeit einer deutsch-australischen Wasserstoffbrücke untersucht – mit eindeutigem Ergebnis: Die Erzeugung und der Transport von Wasserstoff und Wasserstoff-Derivaten von Australien nach Deutschland ist möglich – technisch, ökonomisch und rechtlich. Jetzt müssen diese Importe politisch realisiert werden.

Wie sehen Sie den Einsatz von Wasserstoff in der chemischen Industrie?

Reiche: In der Chemieindustrie geht es einerseits darum, den bestehenden Wasserstoffbedarf von etwa einer Million Tonnen überwiegend grauem Wasserstoff durch klimaneutralen Wasserstoff zu ersetzen. Hierfür bedarf es vor allem bei der Ammoniakproduktion völlig neuer Anlagenkonzepte, in die investiert werden muss. Andererseits muss auch die bislang weitgehend fossile Rohstoffbasis treibhausgasneutral gestaltet werden. Nach NWR-Schätzungen liegt der Wasserstoffbedarf der Chemieindustrie im Jahr 2030 bei mehr als einer Million Tonnen. Um diese Menge elektrolytisch zu erzeugen, würde man 1500 Offshore-Windkraftanlagen benötigen.

Ihr Engagement als Vorsitzende des Nationalen Wasserstoffrats erfolgt auf ehrenamtlicher Basis. Was treibt Sie an, gerade das Thema Wasserstoff voranzubringen?

Reiche: Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Wasserstoff als Energieträger in Zukunft eine zentrale Rolle einnimmt und über den Erfolg der Energiewende entscheidet. Bei der Energiewende geht es nicht nur um Klimaschutz und Nachhaltigkeit, um die Energieversorgung oder die Energiesicherheit. Sondern auch um unseren Wohlstand, unseren sozialen Frieden – und damit die Zukunft unserer Gesellschaft. Wenn das kein Grund ist, sich zu engagieren – dann weiß ich auch nicht.

Frau Reiche, vielen Dank für Ihre Antworten und das Interview.


Das Interview führte für Sie: Jasmin Qaud-Taher

Freie Fachjournalistin für prozesstechnik-online.de


Kurzprofil:   Katherina Reiche

Katherina Reiche ist Diplom-Chemikerin und seit Januar 2020 Vorstandsvorsitzende der Westenergie AG. Darüber hinaus ist sie seit Juni 2020 Vorsitzende im Nationalen Wasserstoffrat der Bundesregierung und seit April 2023 Mitglied des Aufsichtsrates der Schaeffler AG. Reiche war 17 Jahre lang Mitglied im Deutschen Bundestag, sechs davon als Mitglied der Bundesregierung und Staatssekretärin in zwei Bundesministerien: dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sowie dem Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur.


Nationale Wasserstoffrat:   Wer ist das?

Der Nationale Wasserstoffrat (NWR) ist ein von der Bundesregierung berufenes Gremium. Es handelt sich um einen unabhängigen, überparteilichen Expertenausschuss. Der Rat ist aktuell mit 26 hochrangigen Fachleuten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft besetzt. Vorsitzende des NWR ist Katherina Reiche.


„Die multiple Krise erfordert eine multiple Wende. Das macht es so herausfordernd. Die nächsten Jahre entscheiden darüber, ob Deutschland wettbewerbsfähig bleibt.“

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