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Betriebssicher regeln

Fuzzy Control und neuronale Netze in kleinen und mittleren Kläranlagen
Betriebssicher regeln

Bei der Automatisierung der biologischen Stufe kleiner und mittlerer Kläranlagen bietet Fuzzy Control in Verbindung mit praxisgerechten Sensorsystemen betriebssichere Lösungen mit der Fähigkeit zur automatischen Adaption an wechselnde Betriebszustände. Ergänzend zur Prozeßregelung ermöglichen neuronale Netze die Voraussage des Betriebsverhaltens bei sich ändernden Belastungen.

Prof. Dr. Michael Bongards

In den letzten Jahren hat sich die Prozeßautomatisierung hauptsächlich mit großen Kläranlagen beschäftigt. Vor dem Hintergrund, daß in Deutschland eine sehr große Zahl kleiner und mittlerer Anlagen in Betrieb sind, findet hier seit einiger Zeit ein Umdenken statt (Abb. 1). Der erfolgreiche Einsatz von Automatisierungslösungen in Kläranlagen für unter 5000 Einwohnergleichwerten (EGW) erfordert ganz andere Systeme als beispielsweise Anlagen für 1 000 000 EGW. Die große Anlage verfügt über eine Leitwarte, in der von qualifiziertem Personal unter Einsatz von aufwendiger Online-Prozeßanalytik bzw. Prozeßrechnern der Betrieb kontinuierlich überwacht und optimiert wird. Im Gegensatz dazu sind kleine Kläranlagen in der Regel nicht dauernd besetzt. Sie werden nur in Intervallen besucht und gewartet. Des weiteren hat das Personal oft nicht genügend Zeit zur Verfügung, den Prozeßablauf umfassend zu überwachen und zu optimieren. Diese Anlagen werden häufig nach der bewährten Regel betrieben: „Ändere nie etwas, was so halbwegs funktioniert. Es könnte hinterher schlechter gehen. Und dann gibt es sehr viel Ärger.“ Leider sind derartige „Betriebszustände“ meistens weit von einer optimalen Fahrweise entfernt.
Anforderungen an ein Regelsystem
Ein Regelsystem für kleine und mittlere Kläranlagen sollte robust und möglichst wartungsfrei sein. Unter Robustheit der Schaltausgänge ist nicht nur die elektrische Belastbarkeit zu verstehen. Vielmehr muß eine sichere Funktion der Schaltvorgänge auch noch gewährleistet sein, wenn beispielsweise die gemessenen Signale falsch sind. Weiterhin muß auch unter extremen Betriebsbedingungen die Funktion der Anlage gesichert sein und es darf nicht zu unsinnigen Schaltvorgängen im System kommen.
Die Wartungsfreiheit beinhaltet neben wartungsarmen Sensoren mit möglichst langen Betriebsintervallen zwischen der Reinigung bzw. Kalibration auch eine weitestgehende Selbsteinstellung des Regelgeräts. In der Praxis kann der Anwender Regler nicht aufwendig justieren und Parameter einstellen. Gefragt ist die aus der Computertechnik bekannte „Plug and Play“-Methode: Das Gerät wird angeschlossen und muß dann sofort einsetzbar sein.
Zu beachten ist weiterhin, daß nicht jedes Prozeßmeßgerät für die Abwassertechnik geeignet ist. Gefordert sind lange Standzeiten bei rauhen Umgebungsbedingungen und starker Verschmutzung.
Zur Entfernung der biologisch abbaubaren organischen Schmutzstoffe (BSB-Abbau) muß die Kläranlage ausreichend belüftet werden. Um zusätzlich den gebundenen Stickstoff abzubauen, wird die Belüftung in Intervallen zu- und abgeschaltet (Nitrifikation und Denitrifikation). Für diese Aufgabe wurde in enger Zusammenarbeit mit einem Hersteller von industriellen Sensorsystemen ein Meß- und Regelungssystem entwickelt, das aus einer Kombination von Sauerstoff- und Redox-Potential-Sensor besteht. Die Auswertung beider Meßsignale ermöglicht zuverlässige Aussagen über den Betriebszustand der Anlage und damit eine sichere Systemregelung. Eingesetzt wird eine Kombination aus konventioneller PID-Regelung, Fuzzy-Adaption und Fuzzy-Analyse des Prozeßzustandes.
Fuzzy-Regelung
Für die Regelung des Sauerstoffgehaltes in der Nitrifikationsphase hat sich der PID-Regelalgorithmus bewährt.Einerseits verlangt zwar die Einstellung der Reglerparameter für die Belüftung einer Kläranlage entsprechende Erfahrung. Andrerseits können die Parameter unabhängig von der Anlage bereits vorab grob festgelegt werden. In Abhängigkeit von der Tageszeit und den Witterungsbedingungen ist das Verhalten einer Anlage allerdings sehr unterschiedlich. Gerade kleine Kläranlagen haben stark schwankende Zuläufe: Während nachts der Abwasserzulauf fast vollständig zum Erliegen kommt, kann bei Regenwetter das Dreifache der Nennbelastung zufließen. Eine automatische Anpassung der Reglereinstellungen an sich ändernde Belastungen der Kläranlage ist über entsprechende Adaptionsalgorithmen bzw. Fuzzy-Regeln möglich. Auch bei tages- und jahreszeitlich bedingten Zustandsänderungen der Anlage arbeiten die Regler optimal. Eine zeitaufwendige manuelle Bestimmung der Regelungsparameter ist nicht mehr erforderlich. Voraussetzung für diese vollautomatische Fuzzy-Adaption ist, daß auf der Grundlage von Erfahrungswerten aus anderen Kläranlagen schon recht brauchbare Startwerte und Variationsbereiche für die Regelungsparameter bekannt sind.
Des weiteren sind die Zeitintervalle ohne Belüftung (Denitrifikation) zu regeln. Im einfachsten Fall ist eine derartige Umschaltung mit festen Zeitintervallen schon mit Hilfe einer Zeitschaltuhr möglich. Eine Optimierung des Anlagenbetriebs ergibt sich, wenn tageszeitliche Veränderungen entsprechend dem Tagesgang der Belastungskennlinie berücksichtigt werden. Zudem beeinflußt die Temperaturabhängigkeit der Nitrifikation die Länge der Denitrifikationsphase. Bei abnehmender Temperatur muß die Nitrifikationszeit entsprechend verlängert und die Denitrifikationszeit verkürzt werden.
Aus den Regelparametren für die Belüftung während der Nitrifikationsphase läßt sich die Belastung der Anlage ermitteln. Nun hat der Abbau der BSB-Fracht und des Ammoniums in der Regel Vorrang vor der Nitrat-Entfernung. Bei großer Anlagenbelastung ist also eine möglichst optimale Nitrifikation anzustreben, auch wenn diese auf Kosten einer weniger effizienten Denitrifikation erfolgt.
Die Regelung der Umschaltzeitpunkte zwischen Nitrifikation und Denitrifikation erfolgt über die Analyse des Redox-Potentials. Ein Knickpunkt im zeitlichen Verlauf des Redox-Potentials zeigt das Ende der Denitrifikation an. Aufgrund von Meßungenauigkeiten und zahlreicher Störgrößen ist das Redox-Potential als alleiniger Parameter zur Prozeßsteuerung nicht robust genug. In einen Regelalgorithmus müssen die hier getroffenen Vorüberlegungen mit einbezogen werden, um ein wirklich robustes und störunempfindliches System zu schaffen.
Die Länge der Nitrifikations- und der Denitrifikationszeiten hängt von der Tageszeit, Temperatur und der Belastung der Anlage ab. Kombiniert man diese Größen über ein Fuzzy-Regelwerk mit der statistischen Auswertung des zeitlichen Verlaufs des Redox-Potentials, erhält man ein sehr robustes und fehlertolerantes Entscheidungssystem, das auf jeden Fall unsinnige und betriebsschädigende Umschaltungen vermeidet. Zur Veranschaulichung und für den Test der hier vorgestellten Regelungskonzepte wurde ein Prozeßregler mit dem Simulationsmodell einer Kläranlage von 1000 EGW gekoppelt, mit dem realistische Betriebszustände und Anlagenfahrweisen simulierbar sind. In Abbildung 4 ist die Prozeßsimulation mit der Regelung von Gebläseleistung und Denitrifikationszeit über 24 Stunden bei tageszeitlich schwankender Belastung dargestellt. Die obere Kurve stellt den Sauerstoffeintrag, also die Leistungsabgabe des Gebläses dar. Deutlich ist das Belastungsminimum gegen 8.00 Uhr morgens zu erkennen und das Maximum gegen 17.00 Uhr. Die Regelung der Sauerstoffkonzentration während der Nitrifikation ist auf einen Sollwert von 2 mg/l eingestellt, der auch gut eingehalten wird. Dies ist an der unteren Kurve für die O2-Konzentration zu erkennen.
Die Wirkung des Nitrifikations- bzw. Denitrifikations-Reglers zeigt sich in den variablen Zeitintervallen der Belüftung. Bei niedriger Belastung wird die Denitrifikationszeit verlängert und bei hoher Belastung vergrößert sich proportional die Nitrifikationszeit. Um einen ausreichenden Ammonium-Abbau zu gewährleisten, wird in der Hochlastphase gegen 17.00 Uhr hauptsächlich nitrifiziert. In der Schwachlastphase ist das Gebläse längere Zeit außer Betrieb, die Mikroorganismen können hier den erforderlichen Sauerstoff aus dem Nitrat gewinnen.
Vor dem Hintergrund, daß heute noch viele kleine Kläranlagen mit keiner oder mit einer unzureichenden Regelung betrieben werden, ergeben sich aus der Anwendung des hier vorgestellten Systems außerordentliche Energie-Einsparpotentiale und gleichzeitig verbesserte Ablaufwerte.
Neuronale Netze zur Prozeßsimulation
Die der Abwassereinigung zu Grunde liegenden biochemischen Vorgänge sind im Detail nicht vollständig bekannt. Deshalb bereitet die Prozeßanalyse bzw. die Prozeßsimulation zu Regelungs- und Optimierungszwecken entsprechende Probleme. Die Entwicklung konventioneller Prozeßmodelle bindet erfahrenes Personal mehrere Monate lang. Im Gegensatz dazu ist ein Modell auf der Basis eines neuronalen Netzes bei vorliegenden Meßdaten in ca. 1 Stunde automatisch berechnet. Abbildung 5 zeigt den Vergleich zwischen Meßdaten einer kommunalen Kläranlage und den mit Hilfe eines neuronalen Netzes – das vorher an typischen Betriebsdaten der Anlage trainiert wurde – vorausgesagten Ablaufwerten. Die Genauigkeit des neuronalen Netzes ist sehr gut und übertrifft teilweise noch die Ergebnisse der aufwendigen analytischen Modelle. Als neuronales Netz wird das bereits in der chemischen Industrie bewährte Programm NeuroModel von ATLAN-tec eingesetzt.
Mit Modellen, die auf neuronalen Netzen basieren, lassen sich Ablaufwerte von Kläranlagen gut vorhersagen. So kann beispielsweise die Einleitung von Abwässern aus Sickergruben gezielt gesteuert werden. Zudem benötigt man für die Berechnung eines neuronalen Netzes aus Prozeßdaten nur wenige Stunden. Es kann jederzeit automatisch an geänderte Betriebsbedingungen angepaßt werden.
Fortschritte auf dem Gebiet der Automatisierungstechnik ermöglichen immer besser die Verarbeitung ungenauer, unscharfer oder auch teilweise falscher Meßdaten zu brauchbaren Ergebnissen. Damit eröffnen sich auch neue Perspektiven für die Automatisierung von komplexen biochemischen Prozessen wie sie beispielsweise in Kläranlagen auftreten.
Halle 6, Stand 6B15
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