Alle reden über Nachhaltigkeit, und wir tun das auch. Frau Granato, wo steht die Lebensmittelindustrie bei diesem wichtigen Thema?
Heather Granato: Nachhaltigkeit ist in der Branche längst kein Nischenthema mehr. Zum einen werden strengere Richtlinien diskutiert, zum anderen legen viele Hersteller und Händler ihre Ziele inzwischen als Selbstverpflichtung fest. Es wird aber immer deutlicher, dass Nachhaltigkeitsziele in der Lebensmittelindustrie nur dann erreicht werden können, wenn die Lieferketten transparenter werden – das fordern übrigens auch Verbraucher. Für Unternehmen heißt das, dass sie mehr Verantwortung für die Herkunft ihrer Rohstoffe übernehmen, ihre Lieferanten sorgfältig auswählen und vor allem klar und ehrlich kommunizieren. Angesichts des wachsenden Drucks von Händlern und Behörden müssen Unternehmen jetzt ihre gesamte Wertschöpfungskette unter die Lupe nehmen, um die Anforderungen bezüglich der Berichterstattung über die Scope-3-Emissionen zu erfüllen.
Was sind Scope-3-Emissionen?
Granato: Scope 3 ist der dritte und umfangreichste Geltungsbereich für die Emissionsbilanzierung nach dem Greenhouse Gas (GHG) Protocol. Diese Kategorie umfasst alle indirekten Treibhausgas-Emissionen aus Quellen, die das bilanzierende Unternehmen nicht besitzt oder direkt kontrolliert. Die Scope 3-Emissionen machen in der Regel den größten Anteil am CO2-Fußabdruck eines Unternehmens aus und entstehen durch vor- und nachgelagerte Aktivitäten entlang der Wertschöpfungskette.
Trifft das in dieser Form auch auf die Lebensmittel- und Getränkeindustrie zu?
Granato: Auf alle Fälle. Scope-3-Emissionen sind in der Herstellung von Lebensmitteln und Getränken die bedeutendste Kategorie, und sie sind gleichzeitig am schwersten zu kontrollieren, da sie außerhalb der direkten Kontrolle der Hersteller liegen, wie beispielsweise Lebensmittelverschwendung, Bewässerungspraktiken oder die Herstellung und der Einsatz von Düngemitteln oder Pestiziden. Aktuell vorgeschlagene Gesetzesänderungen fordern, dass es in Europa und in den USA zur Pflicht werden soll, auch die Scope-3-Emissionen zu reduzieren. Und last but not least wird auch Upcycling immer mehr zur gängigen Praxis. Auf der Fi Europe werden diese Themen eine wichtige Rolle spielen, beispielsweise in Expertenvorträgen beim Future of Nutrition Summit am Vortag der Messe.
Welchen Herausforderungen hat sich die Lebensmittel- und Getränkeindustrie aktuell zu stellen?
Granato: Neben der bereits erwähnten Nachhaltigkeit ist es die Komplexität der globalen Liefer- und Versorgungsketten. Die meisten Rohstoffe kommen aus der Landwirtschaft, werden oft von mehreren Landwirten und in unterschiedlichen Regionen angebaut – oft in Entwicklungsländern mit begrenzter Konnektivität und ohne den Einsatz moderner Technologien. Technologien wie Blockchain oder IoT wird zwar zugeschrieben, mehr Transparenz in die Logistik zu bringen und die Rückverfolgbarkeit zu sichern, aber solange es keine eindeutige Verbindung zum ursprünglichen Rohstoffproduzenten gibt, werden immer blinde Flecken bleiben.
Ich dachte, dass die Unternehmen durch die Corona-Pandemie begriffen hätten, welche Gefahren intransparente Lieferkette mit sich bringen?
Granato: Das dachte ich auch, denn am stärksten von Lieferengpässen betroffen waren jene Unternehmen, die nicht einmal von den Problemen ihrer Lieferanten wussten. Außerdem ist die Transparenz in der Lieferkette auch die Grundlage für Nachhaltigkeitsinitiativen, denn nur wenn ein Unternehmen die Schwachstellen kennt, kann es reagieren.
Welche Rolle spielen Organisationen wie Solidaridad bei der nachhaltigen und transparenten Gestaltung von Produktionsprozessen?
Granato: Eine wichtige. Solidaridad beispielsweise ist ein strategischer Partner der Fi Europe. Die Organisation setzt sich dafür ein, Lieferketten transparenter und nachhaltiger zu gestalten und fördert nachhaltige Anbauprojekte. So unterstützt das Projekt Climate Heroes Dream Fund zum Beispiel Kleinbauern, die nachhaltige Anbaumethoden anwenden und neben den Nutzpflanzen auch Bäume pflanzen, um Kohlenstoff zu binden. Diese sogenannten Carbon Removal Units werden dann über den globalen CO2-Marktplatz Acorn gehandelt und via Satellitentechnik überwacht und sorgen so für finanzielle Anreize. Bis Ende 2026 sollen sich 100 000 Kleinbauern in Kolumbien, Nicaragua, Uganda und Kenia angemeldet haben.
Welche Bedeutung hat das Thema Kommunikation im Zusammenhang mit Nachhaltigkeit und Transparenz?
Granato: Eine ganz entscheidende. Ohne das Vertrauen der Verbraucher geht nichts, und hier müssen wir Klartext sprechen. Denn viele Technologien, die jetzt in der Industrie eingesetzt oder erforscht werden, sind erklärungsbedürftig: KI, Präzisionsfermentation, Gentechnik oder zelluläre Landwirtschaft, also die Herstellung tierischer und pflanzlicher Produkte in Zellkulturen, werden nur akzeptiert werden, wenn Verbraucher sie verstehen. Das Beispiel von Flavr Savr, der ersten kommerziell angebauten gentechnisch veränderten Tomate und ein gutes Beispiel für grüne Gentechnik, ist aufgrund mangelnder Akzeptanz schnell wieder vom Markt verschwunden.
Wie sieht es mit der Ehrlichkeit gegenüber den Verbrauchern aus?
Granato: Sie denken hier u. a. an das Grennwashing?
Richtig.
Granato: Greenwashing ist ein großes Thema. Verbraucher erwarten Ehrlichkeit. Unternehmen, die überzogene Behauptungen zum Thema Nachhaltigkeit aufstellen, werden mit Gegenwind rechnen müssen. Wer das Vertrauen der Verbraucher aufs Spiel setzt, gefährdet unter Umständen das Vertrauen in ganze Produktkategorien. Und Ehrlichkeit ist auch mit Blick auf die Lieferkette angesagt: Wenn ein Unternehmen einen Inhaltsstoff nicht bis zum Ursprung zurückverfolgen kann, muss es das offenlegen, die Gründe dafür benennen und darüber sprechen, wie eine Lösung aussehen könnte.
Informa Markets, Amsterdam
Das Interview führte für Sie: Katja Kuderna
Freie Journalistin