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Assistenten für die Produktion

Methoden des maschinellen Lernens machen große Fortschritte
Assistenten für die Produktion

Im Gespräch mit dei erklärt Andre Schult, Gruppenleiter für Digitalisierung und Prozesseffizienz am Fraunhofer IVV in Dresden, warum eine menschenleere Fabrik nicht unbedingt die sinnvollste Lösung ist. Im Zentrum seiner Forschungen steht das selbstlernende Assistenzsystem SAM. Es soll Bediener befähigen, Fehler schneller zu erkennen und eigene Lösungsvorschläge einzubringen – und das in einem immer komplexer werdenden Umfeld.

Herr Schult, die Reduzierung von Stillstandzeiten und die Erhöhung des Durchsatzes sind zwei Stellgrößen zur Steigerung der Wirtschaftlichkeit von Verpackungsmaschinen. Anlagenbauer sprechen häufig von Wirkungsgraden weit oberhalb der 90-Prozent-Marke. In der Realität wird das Potenzial der Anlagen trotz hohen Automatisierungsgrads allerdings nur selten ausgeschöpft.

Andre Schult: In der Verpackung und Verarbeitung von Lebensmitteln sind große, teilweise nur schwer messbare Eigenschaftsschwankungen, wie etwa Feuchtigkeit, charakteristisch. Die kontinuierliche Anpassung der Maschinen an diese Schwankungen sowie die komplexen Ursache-Wirkungs-Beziehungen bei Störungen erfordern ein hohes Prozess- und Erfahrungswissen seitens der Bediener.

Und dieses Know-how fehlt?

Schult: Ja, zunehmend. Insbesondere bei Störungen wird die wahre Ursache nur selten gefunden, was zu sich wiederholenden und ungeplanten Stillständen und einem daraus resultierenden schlechten Wirkungsgrad führt – die Folgen seitens der Bediener sind Hilflosigkeit, Überforderung und Frustration.

Sind Roboter in diesem immer komplexer werdenden Arbeitsumfeld ein Garant für den störungsfreien Ablauf? Oder anders gefragt: Ist menschliche Präsenz in Zeiten von Industrie 4.0 noch notwendig?

Schult: Vollständig autonome Prozesse sind häufig weder technisch möglich noch wirtschaftlich sinnvoll. Der Mensch mit seinen einzigartigen motorischen, sensorischen und kognitiven Fähigkeiten ist als hochflexibles „Werkzeug“ viel zu wertvoll, um auf ihn zu verzichten.

Bekommt die Zukunftsvision von der voll automatisierten Smart-Factory damit nicht erste Risse?

Schult: Der Trend zu menschenleeren Fabriken wird von Experten zunehmend skeptisch gesehen. Das hat vor Kurzem auch Tesla-CEO Elon Musk via Twitter eingeräumt. Er gibt zu, dass die voll automatisierte Model-3-Produktion ein Fehler war und Menschen unterbewertet sind.

Wie Elon Musk plädieren Sie dafür, den Menschen enger in den Prozess mit einzubeziehen?

Schult: Ja, dies ist nicht nur von Vorteil, sondern auch notwendig, um die Komplexität von Ursache-Wirkungs-Beziehungen zu verstehen und um Störungen nachhaltig zu beseitigen bzw. Prozesse richtig einzustellen. Insbesondere Bediener müssen möglichst zügig umfangreiches Prozesswissen aufbauen, um die technischen Möglichkeiten der Maschinen voll ausschöpfen zu können.

Mit dem selbstlernenden Assistenzsystem SAM wollen Sie sie dabei unterstützen, indem Sie maschinelles Lernen und menschliche Erfahrung verbinden. Wie unterscheidet sich Ihr Ansatz von dem anderer Systeme?

Schult: Konventionelle Assistenten sind entweder autonome Regelsysteme, wie etwa die Einparkhilfe beim Auto, bei denen durch die Entkopplung der Erfahrungsaufbau beim Nutzer eher verschlechtert wird. Oder aber es handelt sich um klassische Erfahrungsspeicher, wie beispielsweise digitale Schichtprotokolle. Problematisch bei diesen Systemen ist die aufwendige und manuelle Suche in Datenbanken.

Was macht SAM anders?

Schult: SAM sucht im Speicher nicht nach vorgegebenen Schlagworten, sondern analysiert und verknüpft die Zustände der Maschine mit den Datenbankeinträgen ihrer Bediener. Wenn eine Störung mehrmals auftritt, erkennt SAM diese wieder und gibt dem Bediener Hinweise, wo der Fehler am wahrscheinlichsten zu finden ist.

Agiert das System ereignisbasiert oder auch vorausschauend im Sinne von Predictive Maintenance?

Schult: Erfolgreiche Lösungsstrategien erkennt SAM zum einen automatisch durch die dauerhafte Beseitigung der Störzustandes und zum anderen durch eine aktive Bestätigung des Lösungsvorschlags durch den Bediener. Damit agiert das System in der aktuellen Ausbaustufe vorwiegend ereignisbasiert. Die generierten Daten ermöglichen jedoch die Analyse von Trends und damit eine vorausschauende Unterstützung im Sinne von Predictive Maintenance. Außerdem bietet SAM die Möglichkeit der Vernetzung. So lassen sich SAMs an ähnlichen Maschinen in einem Werk verbinden und dadurch mehr Erfahrungswissen speichern. Auch eine weltweite und unternehmensübergreifende Vernetzung ist denkbar.

Welche Schlüsseltechnologien kommen bei SAM zum Einsatz?

Schult: Der Schwerpunkt in der Entwicklung liegt auf der Zustandsanalyse mithilfe von Algorithmen des maschinellen Lernens. Bei „normaler“ Anwendung dieser Algorithmen würde SAM sehr viele gleichartige Störfälle im Betrieb und damit viel Zeit benötigen, um diese mit hoher Wahrscheinlichkeit wiederzuerkennen. Wir arbeiten deswegen an Methoden, die SAM deutlich schneller machen.

Wer die Anlageneffektivität steigern will, braucht vor allem verlässliche Informationen aus dem Prozess …

Schult: SAM erfasst heute alle Daten aus der internen Anlagensensorik, die helfen, eine Störung von einer anderen zu unterscheiden. Künftig werden wir zusätzliche Funktionalitäten wie externe Sensoren der Nahinfrarotspektroskopie, Schwingungssensoren oder Kamerasysteme zur Analyse von Bewegungsmustern implementieren.

Lässt sich jede Anlage mit dem System ausstatten?

Schult: SAM ist von Beginn an als nachrüstbares, autarkes System konzipiert und benötigt keine weitere Sensorik. Es wird auf einem separaten PC installiert und kommuniziert über Feldbus mit der Maschine. Mit einer universellen Schnittstelle haben wir eine Möglichkeit geschaffen, uns mit den geläufigsten Bus-Protokollen und Steuerungsherstellern verbinden zu können. Dazu muss SAM lediglich als Slave-Komponente in das Antriebssystem eingebunden werden. So erhält SAM nur die freigegebenen Daten ohne aktiven Eingriff in die Steuerung. Aktuell arbeiten wir daran, den Aufwand der Schnittstellen- und Algorithmenkonfiguration weiter zu reduzieren und die Implementierungskosten zu senken.

Welche Einsatzmöglichkeiten ergeben sich für Produzenten?

Schult: SAM lässt sich sowohl in der Lebensmittelherstellung als auch beim Verpacken einsetzen – z. B. an einer Joghurt-Abfüllanlage mit Sekundärverpackung. Dort erfordern die komplexen Zusammenhänge ein hohes Erfahrungs- und Prozesswissen.

Sprechen wir noch über den aktuellen Stand der Dinge: Sind bereits Prototypen Ihres Systems im Einsatz?

Schult: Die Methoden für einen besonders schnell lernfähigen Algorithmus haben wir im Labor und in einzelnen Versuchsreihen an Industrieanlagen erfolgreich aufgezeigt. Derzeit erfolgen Untersuchungen im Dauerbetrieb einer realen Produktion bei zwei Industriepartnern. Parallel entwickeln wir mit Interface- und UX-Designern und gemeinsam mit Maschinenbedienern eine möglichst intuitive User-Schnittstelle für die anstehenden Pilotprojekte.

Stichwort Mensch-Maschine-Interaktion – welches sind die nächsten Schritte, um das Vorhaben weiter voranzutreiben?

Schult: In der ersten Version von SAM erfolgt die Interaktion mit dem Bediener über Tablet und/oder PC. Der Bediener schreibt Einträge oder ergänzt SAMs Vorschläge. Aktuell „versteht“ das System diese dokumentierten Inhalte noch nicht. Künftig soll SAM aber Beschreibungen des Menschen verstehen können. Dabei ist der Einsatz verschiedener Werkzeuge wie Datenbrillen, Cloud-Systeme oder Gesten- und Spracherkennung vorgesehen.

Wie sieht die Lebensmittelproduktion im Jahre 2030 aus? Welche Technologiesprünge erwarten Sie auf dem Weg zur Smart Factory?

Schult: 2030 werden viele neue, spannende Technologien in hochkomplexen, automatisierten und flexiblen Anlagen Standard sein. Insbesondere werden numerische Simulationen, optische Technologien, drahtlose Datenübertragung, Produktnachverfolgung und die Algorithmen und Methoden des maschinellen Lernens große Fortschritte gemacht haben und weit verbreitet sein.

Und welche Rolle spielt der Mensch?

Schult: Er wird mit seinen Fähigkeiten weiterhin gegenüber vielen Technologien einen großen Vorteil haben. Und er wird auch künftig in der Lebensmittelindustrie erforderlich sein, um die maximale Leistungsfähigkeit der Prozesse und Anlagen zu nutzen – SAM wird dazu seinen Beitrag leisten.

www.prozesstechnik-online.de

Suchwort: dei1018fraunhofer


Das Interview führte für Sie Mareike Bähnisch

Freie Fachjournalistin


„Der Mensch mit seinen einzigartigen motorischen, sensorischen und kognitiven Fähigkeiten ist viel zu wertvoll, um auf ihn zu verzichten“

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